Es ist wohl eines der größten Streitthemen unter Evolutionsbiologen: Wer ist der gemeinsame Vorfahr aller mehrzelligen Tiere? Als heißeste Kandidaten wurden in der Forschungsgeschichte bisher Schwämme und Rippenquallen gehandelt. Sie sind schon in mehreren Runden gegeneinander angetreten – mit unterschiedlichem Ausgang.
Zur Vorgeschichte: Mehrzellige Lebewesen bevölkern schon seit über 560 Millionen Jahren die Erde. Manche Studien sprechen sogar dafür, dass sich die ersten Urtiere schon vor mehr als 700 Millionen Jahren entwickelt haben. Forscher gehen davon aus, dass sich die Mehrzeller aus einzelligen Kleinstlebewesen entwickelt haben. Diese Einzeller haben sich wahrscheinlich mithilfe einer Geißel fortbewegt und ähnelten darin den noch heute existierenden Kragengeißeltierchen (Choanoflagellaten). Da Schwämme ähnliche Kragengeißelzellen (Choanozyten) besitzen, lag die Vermutung nahe, dass sie an der frühen Evolution entscheidend beteiligt waren.
Runde 1: Nerven zeigen
Im Jahr 2009 haben Forscher um Gert Wörheide von der Universität München die bis dato umfangreichste Studie der Phylogenomik veröffentlicht. In diesem Fachgebiet wird der evolutionäre Stammbaum anhand von genetischen Ähnlichkeiten verschiedener Lebewesen untersucht. Die Wissenschaftler schauten sich das Erbgut von verschiedenen Schwämmen, Nesseltieren und Rippenquallen an und kamen zu dem Schluss, dass die Wirbeltiere und damit auch der Mensch nicht von Schwämmen abstammen können.
Der Grund: Den untersuchten Genen zufolge haben alle Schwammarten einen gemeinsamen Vorfahren, der wiederum kein Vorfahr der Zweiseitentiere (Bilateria) ist. Zu diesen zählen unter anderem Weichtiere, Insekten und Wirbeltiere. Rippenquallen hingegen wiesen eine enge Verwandtschaft zu den Zweiseitentieren auf.
Weitere Hinweise lieferten auch die Nervenzellen der verschiedenen Tiergruppen. Während Schwämme nichts Derartiges besitzen, bilden die ebenfalls recht simplen Rippenquallen solche Strukturen bereits aus. Es ist nach Anscht der Forscher recht unwahrscheinlich, dass sich im Laufe der Evolution an mehreren Stellen unabhängig voneinander Nervenzellen entwickelt haben, was die These der Rippenquallen-Vorfahren verstärkt.
Runde 2: Taktik neu ausrichten
Acht Jahre später, also 2017, hat ein weiteres Forscherteam – ebenfalls unter der Leitung von Gert Wörheide – die Daten neu aufgerollt. Dazu wandten sie modernere und präzisere Analysemethoden auf die Datensätze vorangegangener Studien an. Das harte Urteil der Wissenschaftler: Alle Studien, die Rippenquallen als ersten Vorfahr der Zweiseitentiere sehen, sind Artefakte, die auf inadäquaten Methoden beruhen.
Die wohl fehlerhaften Forschungsergebnisse hängen demnach vor allem mit sehr heterogenen Datensätzen zusammen. „Wir konnten zeigen, dass keines der üblicherweise verwendeten Rechenmodelle solche heterogenen Datensätze adäquat modellieren kann“, sagt Wörheide. Nach der neuen Analysetechnik zeigen auch die ursprünglichen Rippenquallen-Studien die Schwämme als gemeinsamen Vorfahr der restlichen Tierwelt. „Unsere Ergebnisse bestätigen die klassischen Annahmen zur Evolution der Tiere und können helfen, die Diskussion über die Ursprünge der Tierwelt zu beenden“, schließt Wörheide.
Bonusrunde: Schwammzellenforschung
2019 konnten Wissenschaftler auch die Verwandtschaft der mehrzelligen Schwämme zu den einzelligen Choanoflagellaten weiter aufklären. Ein Forscherteam unter der Leitung von Shunsuke Sogabe und William Hatleberg von der University of Queensland hat hierfür die RNA-Strukturen der Einzeller mit den verschiedenen Zelltypen der Schwämme verglichen. Die Wissenschaftler nutzten die Transkriptom-Analyse, um die Genaktivität und den Stoffwechsel der Zellen zu untersuchen.
Das Ergebnis: Zwar sind sich die Choanoflagellaten und die Choanozyten der Schwämme strukturell sehr ähnlich, ihre Transkriptome weisen aber kaum Übereinstimmungen auf. „Das bedeutet, dass diese Zellen nicht die Grundbausteine des tierischen Lebens gewesen sein können, für die wir sie bisher gehalten haben“, so die Forscher. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Schwämme deswegen als Vorfahren der komplexeren Tiere ausscheiden.
Neben den Choanozyten besitzen Schwämme noch weitere Zelltypen. Dazu gehören auch die Archaeozyten, die eine Art omnipotenter Grundbaustein der Tiere sind. Sie fungieren somit als Stammzelle der Schwämme. Diese Archaeozyten wiesen in der Transkriptom-Analyse erstaunliche Ähnlichkeiten mit den Choanoflagellaten und anderen Vergleichs-Einzellern auf. Die ersten Entwicklungsstufen der Mehrzeller waren demnach zwar nahe Verwandte der Schwämme, konnten allerdings deutlich komplexere Strukturen bilden als vorher angenommen.