Bei vielen Gruppen und Tiergesellschaften spielt aber noch eine andere Form des Altruismus eine wichtige Rolle – und bei dieser ist die Verwandtschaft Trumpf. Sie liegt beispüielsweise vor, wenn ein kinderloses Schimpansenweibchen scheinbar selbstlos für den Nachwuchs eines verwandten Weibchens sorgt. Die umhegten Jungen sind zwar nicht ihre Eigenen, gehören aber immerhin zur Verwandtschaft und tragen somit auch einen gewissen Anteil ihrer Gene. Das Schimpansenweibchen sorgt also durch die Hilfe bei der Aufzucht auch für die Verbreitung der eigenen Gene.
Und das aufopferungsvolle Ziesel? Auch das rettet mit großer Wahrscheinlichkeit die Verwandtschaft. Weibliche Belding-Ziesel siedeln häufig in der Nähe der Familie, die männlichen dagegen ziehen weiter fort. Fast immer sind es auch Weibchen, die den Warnruf ausstoßen. Noch extremer ist diese Form des genetisch-verwandtschaftlichen Altruismus allerdings bei sozialen Insekten wie der Honigbiene ausgeprägt:
Nachwuchs bekommt nur die Königin
Mühsam befreit sich die Jungkönigin aus der verdeckelten Wabe. Im Gegensatz zu den künftigen Arbeiterinnen wurde sie als Made ausschließlich mit Gelee Royal gefüttert. Durch dieses königliche Spezialfutter, das reich an Vitaminen, hormonähnlichen Verbindungen und Mineralstoffen ist, wird die Königin zehnmal größer als die normalen Arbeitsbienen und lebt etwa 50 Mal länger. Bei ihrem Hochzeitsflug wird sie sich – als Vorrecht der Königinnen – begatten lassen und dann mit diesem Spermienvorrat ein Leben lang Eier legen.
Im Sommer erzeugt eine Bienenkönigin durchschnittlich 2.000 Eier in nur 24 Stunden. Kein Wunder, dass bei einer solchen Fließbandproduktion keine Zeit für Brutpflege und eigene Nahrungsaufnahme bleibt. Daher ist die Königin ständig von Arbeiterinnen umgeben, die sie mit Gelee Royal füttern. Ein Pheromon, das die Königin produziert, verhindert die Entwicklung der Eierstöcke bei den Arbeiterinnen – sie werden somit nicht geschlechtsreif und können ihre ganze Energie in die Aufzucht der Nachkommen ihrer Königin legen.
Die Schwester steht genetisch am nächsten
Warum aber konnte sich dieses System in der Evolution durchsetzen? Der Grund dafür liegt in der Fortpflanzung und den speziellen Verwandtschaftsverhältnissen der Bienen: Bei ihnen besitzen die männlichen Tiere nur einen einfachen Chromosomensatz, sie sind haploid. Die Weibchen dagegen besitzen wie wir Menschen einen doppelten Chromosomensatz, sie sind diploid. Alle Nachkommen erhalten vom Vater jeweils dessen kompletten Chromosomensatz. Die Königin dagegen gibt an ihre Töchter jeweils nur die Hälfte ihrer Chromosomen weiter – welche Hälfte, entscheidet der Zufall. Alle weiblichen Arbeiterinnen haben deshalb 100 Prozent der väterlichen Gene gemeinsam und 50 Prozent der mütterlichen Gene. Insgesamt also 75 Prozent aller Gene.
Damit aber sind die weiblichen Bienen – alles Schwestern – untereinander näher verwandt, als sie es mit ihren eigenen Kindern wären. Daher tragen die Arbeiterinnen mit ihrem altruistischen Verhalten gegenüber ihren Geschwistern letztlich effektiver dazu bei, dass möglichst viele der eigenen Gene weitergegeben werden, als mit eigenem Nachwuchs. Denn mit diesem würden sie nur die Hälfte ihrer Gene teilen. Normalerweise lässt sich die Königin bei ihrem Hochzeitsflug nicht nur von einer einzigen Drohne begatten, aber bei 2.000 Eiern pro Tag können die Arbeiterinnen sicher sein, dass unter den zu versorgenden Maden genügend Geschwister mit dem selben Vater dabei sind.
Lebende Klimaanlage
Die Kooperation im Staat bringt den einzelnen Bienen aber auch ganz unmittelbare Vorteile: In punkto Klimaregulation etwa kann es keine Einzelbiene mit dem Stock aufnehmen. Ungeschützt würde bereits ab 35°C das Wachs der Bienenwaben anfangen zu schmelzen, ab 40°C droht den Bienen der Hitzeschlag. Im Stock ergreifen sie daher Gegenmaßnahmen: Sie halten die Temperatur künstlich niedrig, indem sie die Waben mit einem Wasserfilm überziehen. Zudem schlagen die Stockbienen mit den Flügeln, um einen kühlenden Luftstrom zu erzeugen. An kühlen Tagen dagegen verschließen die Bienen den Eingang des Stocks und erhöhen die Temperatur im Inneren, indem sie ihre Muskeln schnell bewegen und so Wärme produzieren.
Vor allem morgens kann das praktisch sein. Denn die Bienen sind auf eine Mindesttemperatur angewiesen, um nach Nektar suchen zu können – unterhalb von 10°C können sie nicht mehr fliegen. Mit einer konstant gehaltenen Stocktemperatur von 35-36°C sind sozial lebende Bienen aber auch bei geringen Außentemperaturen in der Lage, Blüten aufzusuchen – ein klarer Vorteil gegenüber einzeln lebenden Bienen, die auf die Wärme der Sonne warten müssen. Auch für die Überwinterung ist die Gemeinschaft wichtig: Dann schließen sich die Bienen zu der sogenannten Wintertraube zusammen, um Wärme zu sparen, und leben von den in Form von Honig angelegten Vorräten.
Diese Strategie der „Gemeinschaftswohnung“ ist im Tierreich extrem erfolgreich. Allein die Anzahl der sozial lebenden Insekten übersteigt bei weitem die Artenzahl aller Vögel und Säugetiere zusammen. Insgesamt zwölf Mal sind diese hochentwickelten Staaten im Laufe der Evolution unabhängig voneinander entstanden. Einmal bei den Termiten und elf Mal bei den Hymentopteren, den Hautflüglern.
Nadja Podbregar / Kerstin Fels
Stand: 30.08.2013