Zum Übergang von der mittelminoischen zur spätminoischen Zeit um 1700 v. Chr. zeichnete sich auch im Schiffbau eine weitere Entwicklung ab. Die intensiven Handelskontakte im östlichen Mittelmeer bestimmten auch die Innovationen im spätminoischen Schiffbau. Die Schiffe wurden größer und verloren ihre überflüssig gewordene Kielverlängerung am Bug.
Flexibel einsetzbare Wasserfahrzeuge
Auf dem sogenannten Westhaus-Fries von Akrotiri, einer durch einen Vulkanausbruch um 1610 v. Chr. verschütteten Stadt auf der Insel Thera, ist eine Schiffsflotte in einer vorher nicht gekannten Detailfülle dargestellt. Diese Szene wirft jedoch mehr Fragen auf, als sie Antworten liefern kann: Wie groß waren die Schiffe? Warum wurden sie gepaddelt? Wozu dienten die Aufbauten? Welche Funktion hatten die seltsamen Konstruktionen im Heck?
Auch in diesem Fall machen es ethnologische Vergleichsbeispiele sowie die Remodellierung der Schiffe des Westhaus-Frieses im Computer und in Holzmodellen durch Thomas Guttandin möglich, Antworten auf die Fragen zu geben. Die auf dem Westhaus-Fries dargestellten Schiffe müssen zwischen 9,7 und 23,6 Meter lang gewesen sein.
Sie waren flexibel einsetzbare Wasserfahrzeuge und konnten mit allen in der Antike bekannten Antriebsarten fortbewegt werden (paddeln, rudern und segeln). Je nach Intention der Fahrt wurde die kriegerische Seite mit Rammsporn und Raubtierkörper oder die friedliche Seite mit Schmuck- und Tierornamenten als Bug gewählt.
Aufbauten im Heck
Eine weitere auffällige Neuerung spätminoischer Schiffe waren Aufbauten im Heck der Schiffe (Kajüten). Die großen Schiffe des Westhaus-Frieses tragen alle eine solche Kajüte und zeigen weitere Details: Die Aufbauten sind außen mit Leder verstärkt, in ihrem Inneren sitzt eine Person mit einem Eberzahnhelm, neben ihr ein griffbereiter über fünf Meter langer Schiffsspeer. Sehr wahrscheinlich dienten diese Aufbauten zum Schutz des Kriegers und trugen damit zur Verteidigung des Schiffes bei.
Durch diese wertvollen ikonographischen Details lässt sich eine sehr interessante historische Entwicklung sichtbar machen: In früh- und mittelminoischer Zeit hatten die Schiffe eine dem Wert der Ladung entsprechend große Besatzung und waren damit in der Lage, Überfälle abzuwehren. In spätminoischer Zeit wurde das Segel zum bevorzugten Antrieb der Schiffe, was zu einer Verkleinerung der Mannschaftsgröße führte, während gleichzeitig der Wert und die Menge der Ladung stiegen.
Dieses Ungleichgewicht machte die Schiffe zu leichter Beute für Piraten. Aus diesem Grund wurden die Bewaffnung der Schiffe und die Seereise im Flottenverband zu wichtigen Voraussetzungen einer maritimen Handelsexpedition.
Thomas Guttandin, Diamantis Panagiotopoulos und Gerhard Plath / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 12.10.2011