Phänomene

Sind Schleimpilze intelligent?

Erinnerung und Orientierung ohne Gehirn

In den Amöben oder verzweigten Auswüchsen des Schleimpilzes ist kein Platz für ein großes Gehirn oder ein Nervensystem. Dennoch zeigt dieser Organismus Eigenschaften, die wir auch uns Menschen zuschreiben würden, wie etwa das Erinnern oder Lösen von herausfordernden Aufgaben. Wie ist das möglich?

SChleimpilz
Dieses Netzwerk eines Schleimpilzes funktioniert in mancher Hinsicht ähnlich wie ein neuronales Netzwerk – es kann sich Dinge merken. © Iuliia Morozova/ Getty images

Netzwerke der Erinnerung

Es hat sich bereits gezeigt, dass der Schleimpilz über Netzwerke aus feinen Kanälen seine Umgebung nach Futter abtasten und sich je nach Nahrungsvorkommen weiter ausbreiten kann. Doch sein Können geht noch darüber hinaus, denn er kann sich gute Futterstellen auch merken: Die Muster, die bei der Suche nach Nahrung im verzweigten Schleimpilzkörper entstehen, bleiben über einen längeren Zeitraum erhalten. So kann der Pilz auch später noch Informationen über seine Umgebung abrufen, die in der Architektur seines Netzwerkes gespeichert sind.

Das natürliche Habitat der Schleimpilze ist dunkel und feucht, er bevorzugt vor allem lichtarme Lebensräume. Auch dabei verfügt dieser Organismus über eine Art Erinnerungsvermögen: In Experimenten bestrahlten Forschende einen Schleimpilz dreimal in Abstand von einer Stunde mit Licht, der daraufhin jedes Mal seine Kriechbewegungen einstellte. Nachdem eine vierte Stunde vergangen war, bestrahlten sie ihn nicht. Dennoch stoppte der Schleimpilz seine Bewegungen. „Er hatte sich die Bestrahlung also gemerkt“, berichtet Döbereiner.

Informationen schwingen weiter

Dieses Erinnerungsvermögen hängt offenbar mit der Flüssigkeit in den Netzwerken des Schleimpilzes zusammen. Die Adern sind mit Zellflüssigkeit gefüllt und transportieren Nährstoffe und Botenstoffe. Je stärker diese Flüssigkeit durch die Adern strömt, desto größer werden die Kanäle. Die Schwingungen der Flüssigkeit zeigen dabei überraschende Parallelen zur Informationsübertragung im Gehirn, die mithilfe von elektrischen Signalen funktioniert. Denn auch dort wird eine Verbindung zwischen Neuronen umso stärker, je größer der Reiz von außen ist.

Doch beim Schleimpilz wird die Erinnerung nicht durch eine verstärkte Anzahl an Bindestellen zwischen Nervenzellen angelegt, sondern wahrscheinlich durch die Dicke der gebildeten Netzwerkkanäle: „Vergangene Nahrungsaufnahmen sind in der Hierarchie der Röhrendurchmesser eingebettet, konkret in der Anordnung von dicken und dünnen Rohren im Netzwerk“, erklärt Mirna Kramer von der Technischen Universität München. Somit kann sich der Schleimpilz auch den kürzesten Weg zwischen mehreren Futterstellen merken und effizient an seine Nahrung herankommen.

Schleimpilze als Schienen-Ingenieure

Die effiziente Suche nach Nahrung mithilfe dieser Art von „Netzwerk-Erinnerung“ konnten Wissenschaftler um Toshiyuki Nakagaki von der Hokkaido Universität in Japan anhand eines Experiments verdeutlichen. Sie stellten eine Städtekarte der Region Tokio nach, indem sie Häufchen aus Haferflocken – bevorzugtem Schleimpilzessen – an die Positionen der umliegenden Städte platzierten. In die Mitte – also auf Tokio – setzten sie den Schleimpilz Physarum polycephalum.

Der riesige Einzeller überwuchs zunächst das gesamte Gebiet und erfasste so alle verfügbaren Haferflocken-Städtchen. Innerhalb eines Tages jedoch bildeten sich dicke Kanäle, die direkte Verbindungen zwischen den Nahrungsquellen herstellten. Nach einer Weile beschränkte sich das Wachstum ausschließlich auf diese Verbindungsadern, die dem Schienensystem Tokios verblüffend ähnlich waren und dieses an einigen Stellen sogar an Effizienz übertraf. „Netzwerkingenieure könnten sich künftig Anregungen vom Schleimpilz holen“, meint Nakagaki. Auf ähnliche Weise kann der Schleimpilz den schnellsten Weg durch ein Labyrinth finden, wenn an Start- und Endpunkte ebenfalls Futter platziert wird.

Kollektives Wissen

Doch damit enden die „kognitiven“ Fähigkeiten des Einzellers noch nicht, denn offenbar kann er seinen Artgenossen die gelernte Information auch beibringen. „Verschmelzen zwei Schleimpilze, kann der eine dem anderen zudem Gelerntes beibringen, so dass die gesamte Schleimpilzstruktur die neuen Informationen anwenden kann“, sagt Döbereiner. In einem Experiment lernten die eigentlich salz-verabscheuenden Schleimpilze, dass ein mit Salz bestreuter Weg am Ende zu Futter führt und ungefährlich für sie ist.

Dieses Wissen konnten sie an andere Einzeller weitergeben, indem sie mit ihren schleimigen Kollegen sozusagen verschmolzen und das Wissen über einen gebildeten Kanal weitereichten. Die Informationen blieben sogar nach der Trennung noch präsent, sodass die ursprünglichen Salzhasser den präsentierten salzkörnigen Weg immer noch als harmlos einstuften.

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