Phänomene

Sind wir alle süchtig?

Ein inflationärer Begriff und seine Grenzen

20 Millionen Raucher gibt es in Deutschland, hinzu kommen fast zwei Millionen Alkoholabhängige und zwischen 1,4 und 1,8 Millionen Medikamentensüchtige. Da wundert es kaum, dass der Begriff Sucht in der Gesellschaft eher negativ belegt ist – und dass Verhaltensweisen schnell gebrandmarkt werden: Von Kaufsucht Smartphonesucht, Internetsucht, Fernsehsucht, Sexsucht, Arbeitssucht, Chatsucht, Pornosucht ist heute oft die Rede – so wie im 18. Jahrhundert gar die Angst vor Lesesucht kursierte.

Der Belohnungseffekt wirkt auch beim Joggen. © tim & annette/ freeimages

Antrieb für Positives

Dabei ist Sucht gar nicht immer negativ. Der Belohnungseffekt, der mit einer manifesten Sucht viel gemein hat, spielt auch im Leben all derer eine Rolle, die sich ohne zu zögern als nicht süchtig bezeichnen würden – und hat hier manchmal sogar positive Auswirkungen. Der Belohnungseffekt kann mit der Befriedigung anfangen, gegen Feierabend den Schreibtisch im Büro aufzuräumen; weil es so schön ist, ihn fast leer zu haben, wenn man geht, will man einfach nicht darauf verzichten.

Auch wer jeden Samstagabend in die Disco oder jeden Sonntagnachmittag zum Tanzcafé geht, weil er den Nervenkitzel des Flirtens genießt, weist streng genommen erste Symptome eines Suchtverhaltens auf. Und dass viele mehrmals die Woche joggen, hat nach einer Reihe positiver Erfahrungen ebenfalls einen Belohnungseffekt zur Folge – eine Alltagssucht, die sogar positive Folgen hat.

Onlinesüchtige kommen vom PC einfach nicht los – auch wenn ihnen die schädlichen Folgen bewusst sind © freeimages

Wo verläuft die Grenze?

Doch der Belohnungseffekt ist auch verantwortlich für das exzessive Betrachten von Serien, manche Fans schauen fünf, sechs Episoden am Stück. Und für das beständige Essen von Schokolade oder Gummibärchen. Was davon ist nun eine echte Sucht? Drei von vier Deutschen trinken täglich mindestens eine Tasse Kaffee. Sind sie alle süchtig? Fünf bis acht Prozent der Bevölkerung haben Expertenschätzungen zufolge ein erhöhtes Risiko, kaufsüchtig zu werden. Aber wann sind sie es?

Wo verläuft die Grenze zwischen einer gefährlichen Krankheit und einer harmlosen Angewohnheit? „Wer genug Geld hat, kann viel kaufen, ohne dass es ihm zum Verhängnis wird. Wer sehr schlank ist, braucht sich keine Gedanken zu machen, dass der häufige Schokoladenkonsum ansetzt“, sagt Psychologin Chantal Patricia Mörsen. Und die tägliche Dosis Koffein dürfte auch keinen Schaden anrichten, wenn man nicht gerade deutlich zu hohen Blutdruck hat. Wann eine Sucht ins Krankhafte abgleite, lasse sich daran festmachen, ob sie dem Betroffenen direkt schade.

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Christian Heinrich / Helmholtz Perspektiven
Stand: 08.01.2016

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Der Immer-wieder-Effekt
"Alltags-Süchte" unter der Lupe – wo liegt die Grenze?

Nicht ohne meinen Kaffee
Was Wohlgefühl mit Sucht zu tun hat

Lust auf mehr
Vom Schlechten des Guten

Sind wir alle süchtig?
Ein inflationärer Begriff und seine Grenzen

In der Suchtspirale
Ab wann wird es bedenklich?

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