Die typischen Mutationen in der DNA einer Bevölkerungsgruppe verraten Mark Stoneking, wo sie sich auf ihrem Weg von einer Region zur nächsten mit der ansässigen Bevölkerung vermischt hat. „Es genügt das Zellmaterial aus dem Speichel oder der Schleimhaut von 20 bis 50 nicht verwandten Personen einer Gruppe“, sagt der Wissenschaftler.
Mit den genetischen Markern können die Forscher Wanderungswellen über die ganze Menschheitsgeschichte zurückverfolgen, von der ersten großen Reise aus Afrika hinaus vor etwa 100.000 bis 50.000 Jahren, der ersten Besiedlung der Neuen Welt vor wahrscheinlich etwa 12.000 bis 13.000 Jahren, der Eroberung der pazifischen Inselparadiese Polynesiens vor rund 5.000 Jahren.
Und selbst Wanderungen, die erst wenige hundert Jahre zurückliegen, lassen sich mit den genetischen Methoden noch untersuchen. Denn intensiver sexueller Kontakt zwischen den Männern und Frauen zweier Völker hat schon nach kurzer Zeit Folgen, die Stoneking und seine Mitarbeiter als Genbeitrag im Genom der Bevölkerungsgruppen nachweisen können.
Weil ausgiebiger sexueller Austausch so eindeutige Spuren hinterlässt, ist die Genanalyse ein gutes Instrument, um Fragen zu klären, die Anthropologen, Völkerkundler, Sprachwissenschaftler oder Archäologen bisher nur lückenhaft beantworten können. Beispiel: die Ausbreitung der Landwirtschaft. Den Übergang vom umherwandernden Jäger und Sammler zum sesshaften Bauern vor rund 10.000 Jahren betrachten Wissenschaftler als größte kulturelle Revolution in der Geschichte des Menschen. „Aber bis heute ist unklar, wie sich Ackerbau und Viehzucht über die Welt verbreiteten“, sagt Stoneking.
Theoretisch gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder bringen Menschen auf ihrer Wanderschaft die Idee mit in neue Gebiete oder die Idee begibt sich auf eine Reise durch die Köpfe, indem Bewohner anderer Regionen sie aufgreifen, während ihre Erfinder am Ursprungsort zurückbleiben.
Hilfe aus Indien
Untersucht hat Mark Stoneking diese Thesen in einer Region, die genau diesen Umbruch in vergleichsweise junger Vergangenheit erlebt hat: Indien. „Dort haben wir ursprüngliche Gruppen, die noch als Jäger und Sammler leben, andere, die schon lange Landwirtschaft betreiben, und Gruppen, die ihre Lebensweise erst in den vergangenen 3.000 Jahren auf Ackerbau und Viehzucht umgestellt haben“, erklärt der gebürtige Kalifornier, der seit sieben Jahren in Leipzig forscht. In Europa wäre eine solche Untersuchung nicht möglich – nicht nur, weil es keine Jäger und Sammler mehr gibt: „Wir kennen auch das genetische Muster der Menschen nicht, die in Europa existierten, bevor sich die Landwirtschaft hier ausbreitete.“ In Südindien leben solche Ureinwohner noch.
Der Vergleich der genetischen Muster für die mütterliche mtDNA und auch des männlichen Y-Chromosoms erbringen dasselbe Ergebnis: Die Neubauern Südindiens sind mit den eingefleischten Bauern Indiens enger verwandt als mit der Urbevölkerung der Jäger und Sammler. Über Jahrtausende haben Landwirte ihre Ideen also weitergetragen, wenn sie in neue Gebiete vordrangen und sich mit der ansässigen Bevölkerung mischten. Das Ergebnis, das Stoneking gemeinsam mit indischen Kollegen 2004 im Fachmagazin „Science“ veröffentlichte, zeigt einerseits, dass Ackerbau und Viehzucht sich ausbreiteten, weil die Bauern ihre Technologie durch Migration verbreiteten. „Sie zeigt aber auch“, sagt Mark Stoneking, „dass kulturelle Prozesse die Kraft haben, die genetische Variation des Menschen zu verändern.“ Oder anders ausgedrückt: Große Errungenschaften machen unheimlich sexy.
Stand: 16.02.2007