So untrüglich die genetischen Analysen der Molekularanthropologen auch sein mögen, sich alleine auf die Gensequenzen zu stützen wäre töricht. „Wir müssen immer wieder einen Schritt zurücktreten, um das gesamte Bild zu betrachten“, sagt Stoneking, der sich seit Jahren darum bemüht, die beteiligten Lager der Natur- und Sozialwissenschaften zusammenzubringen. Die Genetik kann helfen, Geheimnisse zu lüften, die andere Bereiche wie die Linguistik oder die Archäologie nicht entschlüsseln können. Aber auch die Basenzähler, wie die Genetiker manchmal genannt werden, sind auf die Hilfe ihrer Kollegen angewiesen. „Ohne das Wissen der anderen Disziplinen geht es nicht. Wir brauchen sie, um etwa unsere Hypothesen zu formulieren“, sagt Stoneking.
Wie im Fall der Kalmücken, einem Volksstamm von heute etwa 150.000 Menschen, die nördlich des Kaspischen Meeres entlang der unteren Wolga leben, auf einem Gebiet, das zu Russland zählt. Die Kalmücken leben in direkter Nachbarschaft eines echten Schmelztiegels: der kaukasischen Region zwischen Schwarzem etund Kaspischem Meer, in der es mehr als 50 verschiedene Volksgruppen gibt und wo auf einem Streifen von etwa 700 Kilometer Breite Sprachen aus vier verschiedenen Sprachgruppen diesseits und jenseits des Kaukasus- Gebirges gesprochen werden.
Dieser Region hat sich Ivan Nasidze in Stonekings Team angenommen. Und dafür gibt es auch eine ganz einfache Erklärung – abgesehen davon, dass die Gegend für einen Populationsgenetiker äußerst spannend ist: „Ich bin dort geboren“, sagt der Kaukasier mit tiefer Stimme und einem zufriedenen Lächeln unter seinem Schnauzer.
Kalmücken: im Innersten mongolisch
Aus historischen Quellen weiß man, dass die Kalmücken ursprünglich aus der Mongolei stammen. Vor rund 300 Jahren wanderten ihre Vorfahren aus einem mehr als 4.000 Kilometer entfernten Gebiet aus. Ihre mongolische Herkunft sieht man ihnen heute noch an und man hört sie auch, denn sie sprechen immer noch Mongolisch. Doch zehn bis zwölf Generationen sind eine lange Zeit, und man sollte vermuten, dass sich die Einwanderer inzwischen mit ihren russischen Nachbarn vermischt haben. „In einem vergleichbaren Zeitraum ist dies ja auch in Nordamerika bei Europäern und Afroamerikanern vorgekommen“, sagt Ivan Nasidze.
Nasidzes Genanalysen zeigen aber, dass die Kalmücken mit ihren russischen Nachbarn nicht warm wurden und unter sich blieben. Sie sind heute noch so mongolisch wie ihre Vorfahren. Die Gründe verrät die DNA allerdings nicht: „Deshalb müssen wir unseren Blick auch auf andere Aspekte richten“, sagt der Max-Planck-Forscher. Zum Beispiel auf die Lebensweise der Kalmücken. Sie unterscheidet sich völlig von der russischen. Kalmücken waren bis vor Kurzem Nomaden, sie sind Buddhisten und sie sprechen Mongolisch. Russen sind sesshaft, christlichorthodox und sprechen Russisch. Klingt nach guten Gründen, um sich aus dem Weg zu gehen.
Stand: 16.02.2007