Mit der digitalen Revolution, im Rahmen derer alle analogen Vorläufermedien im Großmedium des Cyberspace konvergieren, tritt erstmalig eine Medienabhängigkeit von klinischem Ausmaß in Erscheinung, die sowohl die Psychotherapeutische Medizin als auch die Geisteswissenschaften in zunehmendem Maße beschäftigt. Man geht davon aus, dass mindestens eine halbe Million der Deutschen zwischen 14 und 64 Jahren unter einer Internetabhängigkeit leidet.
Die Entwicklung des Medialen in der zivilisierten Welt hat sich über Jahrtausende hinweg vollzogen. Die Ausflüge des Menschen in künstlerische und künstliche Welten sind immer ausgedehnter und raffinierter geworden. Mit der Erschaffung des Cyberspace ist das Mediale nicht nur zum entscheidenden Referenzbereich, sondern zu dem zentralen Lebensbereich des Menschen schlechthin geworden. Nicht die zentralen Plätze der Länder, Städte und Dörfer, sondern die medialen Plattformen bilden die Mitte der nunmehr digitalen Gesellschaft.
Überbewertung des Medialen
Das Mediale selbst wird damit zu einer übergeordneten Kategorie, von der eine ungeheure Macht ausgeht. Im Zuge dieser Überbewertung hat der Mensch begonnen, sein Leben immer mehr im Hinblick auf seine konkrete oder potenzielle mediale Verwertbarkeit zu gestalten und zu beurteilen. Ohne dass wir uns dessen gänzlich bewusst sind, fragen wir uns immer häufiger, ob unsere Lebenserfahrungen medientauglich sind:
Entweder soll uns das Erlebte an eine mediale Erfahrung, beispielsweise an einen Film, erinnern, oder es soll medial festgehalten werden, zum Beispiel in Form von Bildern und Videos in den sozialen Netzwerken. So setzt sich nicht nur ein gedanklicher Filter, sondern auch ein technischer vor unsere Sinnesorgane. Diese Medialisierung des Alltagslebens wird von immer mehr Menschen nicht nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit erlebt.
Gefährliche Faszination der Parallelwelten
Zugleich werden die Parallelwelten von Internet und Computerspielen immer realistischer und faszinierender. Es verwundert also nicht, dass es Teile der heranwachsenden Generationen versäumen, ihre Existenz in der konkret-realen Welt auf eine Weise einzurichten, die ihnen die Grundlage für ein autonomes Erwachsenenleben bietet. Noch mehr als das: Sie haben gar nicht mehr das Bedürfnis, Helden in dem zu sein, was wir bislang als das eigene Leben bezeichnen, weil sie es ja in ihren virtuellen Stellvertretern, ihren Avataren, längst sind.
In letzter Konsequenz mag die Mediengeschichte darauf hinauslaufen, dass der Mensch nicht mehr (Mensch) ist, wenn er es nicht durch beziehungsweise in Medien ist. Prototypenhaft leben uns dies diejenigen Menschen vor, die bereits hier und heute derart vom Cyberspace abhängig geworden sind, dass sie mit massiver Angst und Depression reagieren, wenn sie im Medienentzug diesem Nichts ausgeliefert sind, das die Reste ihrer konkret-realen leiblichen Existenz ausmacht. Nur wenn der Mensch zuvor auch in sich selbst eine intrapsychische Medialität, einen Geist, ausgebildet hat, vermag er den Sturz aus dem Cyberspace zu überleben, wenn einmal alle Netze zusammenbrechen.
RUBIN / Bert te Wildt / Ruhr-Universität Bochum
Stand: 14.11.2014