Jeder Hindu sollte wenigstens einmal im Jahr eine Pilgerreise unternehmen, als Dank für die Erfüllung weltlicher Güter – so jedenfalls lehrt es ihre Religion. Viele von ihnen besuchen dafür die heiligste Stadt Indiens – Varanasi. Bereits vor 3000 Jahren in den Heldenepen erwähnt, gilt sie als älteste Stadt des Landes. Ihr Name leitet sich von den zwei Flüssen Varuna und Assi ab, zwischen deren Mündungen in den Ganges der alte Stadtkern liegt. Das Alter und die Lage am Ganges sollen Varanasi zum Ort der vollkommenen Erlösung machen. Und so ziehen die Hindus über das ganze Jahr hinweg in diese Siedlung.
Die ankommenden Pilger umrunden zunächst die alte Stadtbegrenzung, ein Fußmarsch von 60 Kilometern Länge. Am Gangesufer führen dann Steintreppen zum Fluß. Über sechs Kilometer ziehen sich diese Badestellen, die sogenannten Ghats, vor einer Stadtkulisse aus hunderten von Tempeln und Gästehäusern entlang. Bei Sonnenaufgang steigen die Gläubigen die Treppen hinab, vollziehen im Wasser des heiligen Flusses nach vorgeschriebenen Ritus ihre Waschungen und beten zur Göttin Ganga.
Viele Pilger legen ein Gelübde ab, die Stadt bis zu ihrem Tode nie mehr zu verlassen. Denn Varanasi ist nicht nur die Stadt, in der sich die Lebenden durch Waschungen von ihren Sünden befreien, sie hat vor allem eine zentrale Bedeutung für die Sterbenden. Wer hier stirbt, entgeht dem Glauben nach dem Kreislauf der Wiedergeburt und steigt mit einer reinen Seele zum Höchsten auf. So sind es vor allem alte und kranke Menschen, die an den Ghats unter größten Anstrengungen täglich im Fluss baden. Wer es sich leisten kann, kommt in einer Herberge unter, doch viele sind zu arm und suchen Unterschlupf in den Winkeln zwischen Häusern, Tempeln und Steintreppen.
Die Toten werden am Ufer auf eigens dafür vorgesehenen Plätzen verbrannt. Während in anderen indischen Städten das Verbrennen von Leichen als unreiner Akt gilt und vor den Toren der Stadt vollzogen wird, geschieht dies in Varanasi inmitten der Altstadt. Am Hauptplatz werden bis zu fünf Tote gleichzeitig etwa drei Stunden auf den Scheiterhaufen gelegt. Dann wird die Leiche in bunte Tücher gehüllt, mit Ganges-Wasser beträufelt und dem Fluß übergeben. Sie sind so vollkommen gereinigt und der neuerlichen Wiedergeburt entgangen.
Stand: 30.06.2001