Aber trägt der bewirtschaftete Wald damit tatsächlich mehr zum Klimaschutz bei als ein naturbelassener? Auch das hat Schulze berechnet. Dabei muss man bedenken, dass es echte Urwälder in Deutschland seit Menschengedenken nicht mehr gibt. Die Wälder werden schon seit Langem auf die eine oder andere Art genutzt und kultiviert.
Die heutigen Naturschutzgebiete, in denen der Forst sich selbst überlassen ist, sind alle relativ jung. Sie haben noch längst nicht das Stadium erreicht, in dem die Kohlendioxid-Bilanz ausgeglichen ist. Sie sind also in der Lage, noch viele Jahre oder Jahrzehnte weiteres Kohlendioxid zu speichern. Und diese Jahre sind für den Klimaschutz besonders wichtig, da in dieser Zeit der Umbau der Energiewirtschaft vorangetrieben wird. In Deutschland ist etwa ein Drittel der Fläche bewaldet, davon werden etwa drei Prozent nicht genutzt.
Naturwald versus Wirtschaftswald
Doch welches Naturschutzgebiet liefert aussagekräftige Zahlen für einen Vergleich? Es gibt sehr unterschiedliche Wälder: Laub-, Nadel- und Mischwälder, junge und alte Wälder. Sie stehen auf sandigem Boden, auf Kalk oder Lehm, in bergigem oder flachem Terrain, sind von großen und kleinen Lichtungen durchsetzt. Eigentlich müsste man den Zuwachs in jedem Forst eruieren und einen Mittelwert bilden. Doch dafür reicht die Datenlage nicht aus.
In seinem Artikel hat Schulze zur Vergleichsrechnung daher Waldinventuren im Nationalpark Hainich in Thüringen aus den Jahren 2000 und 2010 zitiert. Zur Jahrtausendwende ergab die Erhebung einen Holzbestand von 363,5 Kubikmetern pro Hektar, zehn Jahre später waren es 367,5 Kubikmeter. Mit diesen Zahlen als Grundlage kam Schulze für den unbewirtschafteten Naturwald auf einen Zuwachs von 0,4 Kubikmeter pro Hektar und Jahr. Das entspricht einem CO2-Äquivalent von 0,37 Tonnen – gegenüber 3,2 bis 3,5 Tonnen im Wirtschaftswald.
Schulzes Fazit: Ein nachhaltig bewirtschafteter Wald ist etwa um den Faktor zehn vorteilhafter für den Klimaschutz als ein naturbelassener. Die Nutzung von Holz in langlebigen Produkten ist hier noch gar nicht berücksichtigt.
Streit um die Zahlen
An dieser Rechnung entzündete sich heftige Kritik, die zu einem wochenlangen Schlagabtausch in Fachmagazinen, aber auch in den Medien führte. Der Stein des Anstoßes war, dass sich die Waldfläche im Hainich zwischen der ersten und der zweiten Inventur vergrößert hatte. So erhöhte sich die Zahl der Stichprobenpunkte von 1.200 auf 1.421. Wo vorher nur Büsche standen, wuchsen zehn Jahre später armdicke Bäumchen. Dieser junge Wald reduzierte den durchschnittlichen Holzbestand, denn die Zahlen bezogen sich stets nur auf die bewaldete Fläche.
Ernst-Detlef Schulze begründet sein Vorgehen damit, dass es sich beim Hainich um eine Betriebseinheit handelt, die immer als Ganzes betrachtet werden müsse – auch wenn Teilflächen zu- und abnähmen und die Anzahl der Stichprobenpunkte sich ändere: „Weil in der Bundeswaldinventur ebenfalls so verfahren wird, können wir die Ergebnisse auch vergleichen“, sagt der Wissenschaftler.
Doch Torsten Welle von der Naturwald Akademie in Lübeck hält diese Art der Berechnung für falsch: „Das ist Rosinenpickerei!“ Auch der Leiter des Nationalparks Hainich, Manfred Großmann, kritisiert die Vorgehensweise. Er macht eine andere Rechnung auf: Wenn man aus der zweiten Inventur nur die 5.015 Hektar mit 1.200 Messpunkten betrachtet, die bereits in der ersten erfasst wurden, kommt man auf einen jährlichen Zuwachs von knapp neun Kubikmetern pro Hektar, wofür die Bäume etwa neun Tonnen CO2 aus der Atmosphäre saugen. Und bei einer Bezugsfläche von 5.287 Hektar mit 1.421 Messpunkten – wenn also im Jahr 2000 ein Teil der Fläche als unbewaldet in die Berechnung eingeht – sind es sechs Kubikmeter pro Hektar.
Hat Naturwald doch die Nase vorn?
Beide Werte lassen den Naturwald in puncto Klimaschutz besser wegkommen als den Wirtschaftswald – aber nur, solange Ersterer noch wächst und die CO2-Ersparnis durch Holzprodukte nicht berücksichtigt wird. Auch der Forstwissenschaftler und Ökologe Henrik Hartmann, ein Kollege von Schulze am Jenaer Max-Planck-Institut, findet, Schulze habe sich durch den Vergleich mit der korrigierten Bezugsfläche angreifbar gemacht.
Außerdem hätte er zusätzlich weitere Naturschutzgebiete betrachten sollen, auch außerhalb Deutschlands. Entsprechende Zahlen von Naturparks in der Slowakei werden in der Arbeit sogar aufgeführt. Mit ihnen ergibt sich ein durchschnittlicher Zuwachs im Holzvorrat unbewirtschafteter Wälder von rund drei Kubikmetern pro Hektar und Jahr. Wenn man so rechnet, tragen nachhaltig bewirtschaftete Wälder zwar nicht zehnmal mehr zur CO2-Speicherung bei als unbewirtschaftete, sie sind aber für den Klimaschutz zumindest genauso günstig. „Auch das wäre ja ein gutes Argument“, sagt Henrik Hartmann.
Holzwirtschaft mit Nebenwirkungen
Die Diskussion zeigt: Waldinventuren haben ihre Grenzen. So geht in den Holzbestand nur das Stammholz ein, und zwar bloß von Bäumen, die in Brusthöhe dicker als sieben Zentimeter im Durchmesser sind. Doch Kohlenstoff steckt auch im Boden: in den Wurzeln, in der Bodenstreu, im Mineralboden und in der unterirdischen Biomasse. Kritiker der Klimabilanz, die Schulze und seine Kollegen ziehen, führen zudem an, die Nebenwirkungen des Holzeinschlags blieben unberücksichtigt:
Um an die Stämme zu gelangen, arbeiten sich schwere Maschinen durchs Unterholz, was die Bodenstruktur verändern kann. Pierre Ibisch, Professor an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, weist zudem darauf hin, dass größere Kahlschläge zu einer erheblichen Temperaturerhöhung führen, weil die Sonnenstrahlen nun bis zum Boden dringen können.
Sogar das Auflichten, das nutzbaren Bäumen durch gezielte Eingriffe mehr Platz schafft, führe zu einer Erwärmung. Förster sprechen deshalb vom Heißschlagen. Die Folgen: Der Boden heizt sich auf, Kohlenstoff entweicht, und die Bäume am Rand der neuen Lichtung geraten in Stress.