Da sich ultrakalte Gase ebenso verhalten wie die fundamentalen Bausteine der Materie und die Vermittler von deren Wechselwirkungen, lassen sie sich verwenden, um exotische oder aber universelle Eigenschaften von komplexen Systemen in der Natur zu simulieren.
Die Eigenschaften der meisten in der Natur vorkommenden Systeme können nicht auf Basis der zugrunde liegenden mikroskopischen physikalischen Gesetzmäßigkeiten erschlossen werden – und dies liegt weniger am Unvermögen der Kollegen aus der theoretischen Physik, sondern vielmehr an der Struktur der mathematischen Gleichungen: Diese lassen sich grundsätzlich nicht mehr mit gängiger Computertechnologie lösen, sobald zu viele Konstituenten im Spiel sind. Ein Beispiel ist die Entschlüsselung der Funktionsweise großer, für die Biologie wichtiger Moleküle oder das Design neuer funktioneller Materialien.
Kalte Komponenten für Quantencomputer
Dieses Problem erkennend hat der amerikanische Physiker Richard Feynman in den frühen 1980erJahren vorgeschlagen, einen Computer so zu konstruieren, dass die Elemente selbst auf den Gesetzen der Quantenphysik basieren. Die Idee des Quantensimulators war geboren. Für ihre Umsetzung nutzen Forscher heute fast immer ultrakalte Komponenten – supraleitende Metallspulen oder stark heruntergekühte Ionen.
In den vergangenen fünf Jahren hat es – nicht zuletzt durch das verstärkte Engagement von Firmen wie Google, Alibaba, Microsoft und IBM – einen wahren Goldrausch bei der Entwicklung von Quantencomputern und -simulatoren gegeben. Erste Quantencomputer sind bereits über die Cloud nutzbar. Innerhalb der Europäischen Union werden Aktivitäten auf großer internationaler Skala innerhalb des „Quantum Flagships“ gefördert, an dem wir gemeinsam mit der Gruppe von Selim Jochim vom Physikalischen Institut der Universität Heidelberg beteiligt sind.
Noch eine weitere Eigenschaft macht Gase nahe dem absoluten Nullpunkt der Temperatur zu idealen Quantensimulatoren: Durch eine Vielzahl von in den vergangenen Jahren entwickelten Tricks lassen sich die Wechselwirkungen zwischen den ultrakalten Atomen präzise einstellen. Ganz im Feynman’schen Sinne kann so eine große Vielfalt von Modellsystemen synthetisiert und in ihren Quanteneigenschaften simuliert werden.
Superflüssige Materie – in allen Skalen
Die Simulatoren profitieren dabei davon, dass sich Grundgleichungen für scheinbar unterschiedliche Systeme durch Transformation der absoluten auf geeignete relative Skalen, etwa der für das System relevanten Energien, ineinander überführen lassen. Ein Beispiel ist das Verschwinden jeglicher Viskosität in einem fermionischen, stark wechselwirkenden System unterhalb einer Schwellentemperatur, die sogenannte Suprafluidität. Die genauen Ursachen dieses spektakulären Effekts sind noch weitgehend unbekannt.
Aber die physikalischen Gegebenheiten eines ultrakalten Gases bei einem Millionstel Kelvin über dem absoluten Nullpunkt sind dieselben wie bei dem seltenen Helium-Isotop He4 (ein Tausendstel Kelvin), einem Supraleiter (einige Kelvin), Kernmaterie (eine Milliarde Kelvin) und Neutronensternen (jenseits von zehn Milliarden Kelvin).
Das Auffinden derart universellen Verhaltens bildet das zentrale Motiv des Sonderforschungsbereichs „Isolierte Quantensysteme und Universalität unter extremen Bedingungen“, der vor drei Jahren an der Universität Heidelberg eingerichtet wurde. Darüber hinaus beschäftigt sich eines der sieben „Comprehensive Projects“ innerhalb des kürzlich gewonnenen Exzellenzclusters „STRUKTUREN“ mit der Frage, welche fundamentalen und emergenten Phänomene die Quantenstruktur und dynamik in komplexen Quantensystemen bestimmen. In beiden Projekten spielen die synthetischen Modellsysteme, wie sie durch ultrakalte Quantengase realisiert werden können, eine wichtige Rolle.
Autor: Matthias Weidemüller, Zentrum für Quantendynamik der Universität Heidelberg / Ruperto Carola