Gerade klang die Musik noch beschwingt und jubilierend. Doch mit einem Mal bricht sie ab und ein schriller Ton auf der Violine beginnt an den Nerven zu zerren: Im Streichquartett Nr. 1 e-Moll „Aus meinem Leben“ setzte der böhmische Komponist Bedřich Smetana (1824–1884) das Ohrgeräusch, das ihn plagte, musikalisch um. „Die größte Qual bereitet mir das fast ununterbrochene Getöse im Inneren, das mir im Kopf braust und sich bisweilen zu einem stürmischen Gerassel steigert“, schrieb der Komponist in einem Brief.
So wie Smetana leiden heute rund drei Millionen Menschen in Deutschland an nervtötenden Ohrgeräuschen, die ohne Reize von außen auftreten: Tinnitus, das „Klingeln der Ohren“, macht sich oft als schrilles Pfeifen bemerkbar. Andere hören ein Zischen, Kreischen oder ein konstantes Summen. Nistet sich der ungebetene akustische Gast länger als drei Monate ein, spricht man nicht mehr vom akuten, sondern vom chronischen Tinnitus. Bei vielen Betroffenen hat das Ohrgeräusch massive Auswirkungen auf Körper und Geist. Es kann zu Depressionen, Schlafstörungen, verminderter Konzentration oder psychischem Stress führen. Umgekehrt vermag aber auch Stress, beispielsweise durch Überarbeitung, das Störgeräusch auszulösen oder zu verschlimmern.
Vom Außenohr zum Gehirn
Wie aber entsteht ein Tinnitus? Dazu müssen wir und zunächst anschauen, wie das normale Hören funktioniert: Den Schall zu sammeln ist die Aufgabe der Ohrmuschel des Außenohrs. Sie bildet eine Art Trichter und leitet die mechanischen Schwingungen in den Gehörgang, von wo aus sie ins Mittelohr gelangen. Die Schallwellen treffen am Ende des Gehörgangs auf das Trommelfell und lenken es aus, so dass dieses seinerseits die drei Gehörknöchelchen in Schwingung versetzt. Hammer, Amboss und Steigbügel übertragen ihre Bewegungen wiederum auf eine Membran, das ovale Fenster.
Hinter dem ovalen Fenster beginnt das Innenohr mit der Hörschnecke, der Cochlea. Dort nimmt die sogenannte Basilarmembran die Schwingung auf, eine Gewebestruktur, die sich durch die gesamte Länge der Hörschnecke zieht. Die schneckenförmige und sich verjüngende Anatomie der Cochlea bewirkt, dass jeder Abschnitt der Basilarmembran nur von einem bestimmten Frequenzbereich des Schalls in Schwingungen gesetzt wird. Hohe Töne bringen die Membran am Beginn der Cochlea in Bewegung, tiefen Tönen gelingt das erst ein paar Cochlea-Windungen später.
An die Basilarmembran grenzen die Haarzellen im Corti- Organ. Schwingt ein Bereich der Basilarmembran, werden die Härchen dieser Hörzellen an dieser Stelle abgebogen. Diese Bewegung öffnet Ionenkanäle in den Sinneszellen und wandelt so die mechanischen Schwingungen in ein elektrisches Nervensignal um. Dieses Signal wird dann zu verschiedenen Kernen im Hirnstamm geleitet – eine Art Verteilerstation, von der aus parallele Signalwege verlaufen. Ziemlich am Ende der Hörbahn projiziert der Thalamus die Information in die primäre Hörrinde im Schläfenlappen. Diesem „Hörzentrum“ haben wir es vor allem zu verdanken, dass wir die akustische Vielfalt der Welt überhaupt bewusst wahrnehmen.
Dr. Christian Wolf/ dasgehirn.info – ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e. V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologi
Stand: 10.08.2012