Im Zentrum der Arbeiten im Heidelberger Institut für Zoologie steht die Frage, wie sich Nesseltiere entwickeln. Ein unerwartetes Ergebnis der vergleichenden Entwicklungsbiologie und Genomforschung ist, dass tierische Organismen offenbar schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Evolution über ein erstaunlich großes Repertoire von Genen verfügten, mit dem sie die Entwicklung des Körperbaus steuern.
Signalmoleküle mit Zucker bestückt
Auf der Suche nach solchen Genen haben die Forscher um Professor Dr. Thomas W. Holstein die Nesseltiere als wichtigste Vertreter einfacher vielzelliger Organismen ausgewählt, deren gestaltbildenden Gene untersucht und mit denen höher entwickelter Tiere verglichen.
Eine Schlüsselrolle spielen die so genannten Wnt-Gene. Bei diesen Genen handelt es sich um eine Gruppe von Entwicklungsgenen, die bei allen Tieren dafür verantwortlich sind, dass sich eine Körperachse ausbildet und die jeweiligen Organe sowie das Nervensystem heranreifen. Die Gene liefern mit Zucker bestückte Signalmoleküle (Glykoproteine). Diese Moleküle beauftragen ihre Zielzellen, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln.
Millionenjahre alte Gengruppen
Bei der Seeanemone Nematostella vectensis fanden die Wissenschaftler zwölf Wnt-Genfamilien, was in mehrfacher Hinsicht erstaunlich ist: Die einfachen Nesseltiere besitzen damit mehr Wnt-Entwicklungsgene als manche höher entwickelte Tiere, etwa Insekten oder Fadenwürmer (Nematoden), die nur über sieben Gruppen dieser gestaltgebenden Erbanlagen verfügen.
Anders als bisher angenommen, scheint es also keinen direkten Zusammenhang zwischen der Anzahl der Gene und der morphologischen Komplexität tierischer Organismen zu geben. Säugetiere, der Mensch eingeschlossen, besitzen wie die Nesseltiere zwölf Wnt-Gengruppen, wobei bei Säugern mindestens eines der Entwicklungsgene während der Evolution verlorengegangen und durch ein neues ersetzt worden ist.
Wnt-Gene als Voraussetzung für das Entstehen von Vielzellern?
Bei Protozoen, die nur aus einer einzigen Zelle bestehen, und bei Organismen, die wie Schleimpilze zwar Zellkolonien bilden, sich aber nicht zu echten Vielzellern entwickeln, sind bisher kein Wnt-Gene nachgewiesen worden. Das Auftreten dieser Gene vor rund 650 Millionen Jahren dürfte die Voraussetzung für das Entstehen von Vielzellern gewesen sein.
Thomas W. Holstein / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 02.07.2009