Anthropogeographie

Verbaler Verdrängungsprozess

Politische Entwicklung als treibende Kraft für das Sprachensterben

Meist sind die Sprachen ethnischer oder sozialer Minderheiten bedroht, die oft auch wirtschaftlich und politisch im Abseits stehen. Das liegt in der Natur der Sache, denn Menschen geben häufig dann allmählich ihre Muttersprache auf, wenn sie unter den Druck einer dominanten Verkehrssprache und der damit verbundenen Kultur geraten. Besonders einflussreich sind zum Bespiel Englisch, Spanisch und Portugiesisch auf dem amerikanischen Doppelkontinent, Französisch in Afrika oder Malaiisch und diverse Arten des Pidginenglisch wie Bislama oder Tok Pisin im Pazifikgebiet.

Die dominante Leitsprache verdrängt nach und nach die Minderheitensprachen © SXC

Der Verlust einer Sprache kündigt sich an, wenn Eltern sie nicht mehr an ihre Kinder weitergeben. Das ist das deutlichste Symptom, aber nicht die Ursache. Dass in der Neuzeit ein regelrechtes Massensterben begonnen hat, „liegt ganz wesentlich an der veränderten soziopolitischen Situation der Welt“, erklärt der Kölner Linguist Himmelmann. „Hauptsächlich ist es der Entstehung von Nationalstaaten geschuldet, die sich durch eine einheitliche Sprache und Kultur definieren wollen.“

Leitsprache verdrängt Vielfalt

In Europa vollzog sich dieser Prozess im 19. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die gleiche Entwicklung weltweit in den ehemaligen Kolonialgebieten ein. Es entstanden Nationalstaaten nach europäischem Modell mit „einer zentralen politischen Leitidee, Leitkultur und Leitsprache“, so Himmelmann. Besteht keinerlei Interesse, die sprachliche Vielfalt im Land zu bewahren, dann geben viele Minderheiten dem allmählichen Druck nach und übernehmen die Verkehrssprache.

Sprachen können zwar auch erlöschen, wenn Naturkatastrophen, Hungersnöte oder Epidemien große Bevölkerungsgruppen dahinraffen, in den meisten Fällen ist das Sprachensterben jedoch menschengemacht. Als die Konquistadoren im 16. Jahrhundert die Reiche der Azteken, Maya und Inka zerschlugen, fielen Hunderttausende Indios der grausamen Waffengewalt und den eingeschleppten Krankheiten zum Opfer. Um das Jahr 1500, so schätzen Experten, existierten mehr als 1.100 Sprachen auf dem Gebiet des heutigen Brasiliens. „Überlebt“ hat bis heute gerade einmal ein Sechstel von ihnen.

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. 6
  14. |
  15. 7
  16. |
  17. 8
  18. |
  19. 9
  20. |
  21. 10
  22. |
  23. weiter

Karin Schlott / VolkswagenStiftung, Broschüre Bedrohte Sprachen
Stand: 24.05.2013

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Sprachensterben
Schleichendes Verschwinden unseres kulturellen Gedächtnisses

Links zum Thema
Weitere Informationen über Sprachensterben und Projekte

Auf der Roten Liste
Die Hälfte aller Sprachen ist bedroht

Wettlauf gegen die Zeit
Wie kann man aussterbende Sprachen retten?

Perspektivwechsel und Zischlaut-Kaskaden
Seltene Sprachen liefern überraschende Einblicke

Verbaler Verdrängungsprozess
Politische Entwicklung als treibende Kraft für das Sprachensterben

Giftgas gegen Minderheitensprache
Der Überlebenskampf des Gorani im Irak

Jede Muschel ist "shell"
Mit der Sprache verschwindet das Wissen

Fingerzeige aus dem Spracharchiv
Fortschritte durch moderne Sprachdokumentation

Rettung in eigener Hand
DobeS hilft Minderheiten ihre Sprache selbst zu erhalten

Diaschauen zum Thema

News zum Thema

Zweisprachige nutzen zwei Lautsysteme
Mit zwei Sprachen Aufgewachsene hören Laute je nach Sprache unterschiedlich

Chinesische Kinder verlernen das Lesen
Digitale Lernmethoden erschweren das Erlernen der komplexen Schriftzeichen

Indogermanische Sprachen stammen aus Anatolien
Forscher nutzen Modell für Genanalyse für die Entwicklung eines Sprachstammbaums

Sprache könnte auch aus dem Schmatzen entstanden sein
Lippenbewegungen von Affen sind dem beim Sprechen sehr ähnlich

Dossiers zum Thema

Neue Kartenwelten - Eine neue Projektion macht den Menschen und seinen Einfluss zur Basis der Kartografie