Die Verfälschung von Karten setzte sich auch im 20. Jahrhundert fort. Bereits in den 1930 Jahren hatte Stalin angeordnet, amtliche topografische Karten der Sowjetunion zu verfälschen. Bemerkt wurde dies während des Zweiten Weltkriegs, als sich Karten, die deutschen Offizieren zugespielt worden waren, vor Ort als falsch erwiesen und die Deutschen anstelle von Straßen und Dörfern beispielsweise Sümpfe oder Schluchten vorfanden.
Verzerrte Gitter
Der Höhepunkt der Fälschung von Karten wurde jedoch im Kalten Krieg erreicht. Die Staaten des Warschauer Pakts beschlossen bei der „VII. Konferenz der Geodätischen Dienste der sozialistischen Länder“ im Jahr 1965, dass Karten im einheitlichen osteuropäischen „Koordinatensystem 42“ lediglich den Streitkräften des Ostblocks vorbehalten sein dürften. Auf allen Karten mit Maßstäben größer als eins zu eine Million, also detailgenaueren Karten, sollte das Kartengitter dagegen verzerrt werden. Potenziell sensible Karteninhalte sollten zudem ungenau eingetragen werden.
Die Folge waren merkwürdige Wanderungen von Ortschaften, die bei verschiedenen Auflagen von Atlanten an unterschiedlichen Stellen auftauchen. So „wanderte“ das Dörfchen Logaschkino am Ufer der Ostsibirischen See entlang, bewegte sich mal weiter ins Landesinnere, mal weiter in Richtung Meer und verschwand in manchen Atlanten völlig von der Bildfläche. Ähnlich erging es der Stadt Salmi am Ladogasee, die mal westlich, mal östlich des 32. Längengrades lag.
„Die russischen Kartografen erfüllten ihren Plan der angeordneten Verfälschungen, indem sie relativ unscheinbare Veränderungen vornahmen,“ erklärt Kurt Brunner, Professor für Kartografie an der Universität der Bundeswehr in München.
„Tarnungsvorlagen“ für die Kartenfälschung
Auch in der DDR gehörten verfälschte topografische Karten zum Repertoire. Hier gab es von allen Kartenblättern eine unverfälschte „Ausgabe Staat (AS)“ und eine „Ausgabe Volkswirtschaft (AV)“. Bei letzterer fehlten neben trigonometrischen Punkten oder markanten Geländemerkmalen auch Militär-Flugplätze oder Radaranlagen, außerdem wiesen die Messblätter Verzerrungen auf. So genannte „Tarnungsvorlagen“ legten fest, welche Informationen für die öffentlich zugänglichen Karten-Ausgaben getilgt oder verändert werden sollten.
Der Ostblock stand mit der gezielten Desinformation des Gegners oder der Geheimhaltung amtlicher Karten nicht allein da. Auch in der Bundesrepublik gab es Vorschriften, Flug- oder Manöverplätze in zivilen Karten und Plänen beispielsweise als Wald- oder Wiesenflächen zu tarnen. In Großbritannien müssen bis heute Radiostationen, Brennstoffaufbereitungsanlagen oder Erdöldepots aus Karten getilgt werden. Und auch die USA tarnen ihre militärischen Einrichtungen als Industriegebiet.
Der Kalte Krieg hat skurrile Formen einer ideologisch geprägten Kartografie hervorgebracht. Dass Staaten auch heute noch Vorschriften zur Verfälschung von Karten haben, wonach militärische oder andere strategisch bedeutsame Objekte verschleiert werden müssen, davon sind Experten überzeugt. „Und diese Praxis gibt es weltweit,“ ist sich Militärkartograf Brunner sicher.
Ein bisschen Schummeln gehört immer dazu
Allerdings: Bei aller Kritik an den Manipulationen und Geheimnissen der Kartographen, ein paar „Notlügen“ müssen sein. Schließlich ist es nicht ganz leicht, die Realität vollständig, übersichtlich und maßstabsgetreu auf ein Blatt Papier zu bannen und zudem noch mit erläuternden Symbolen und lesbaren Beschriftungen zu versehen.
Auf jeder Karte wird deshalb vereinfacht und generalisiert. Dabei erfordert diese Generalisierung immer auch die Entscheidung darüber, welche Informationen für die Karte und ihren Zweck wichtig sind. So werden Straßen beispielsweise auf Autokarten überdimensional groß dargestellt, auf anderen Kartenarten sind sie dagegen kaum zu erkennen oder werden nur in Teilen eingezeichnet. Ähnliches gilt für Flächensignaturen, die je nach Maßstab zusammengefasst, ausgedünnt oder eventuell ganz ausgelassen werden,
Amtliche topographische Karten erlauben nur einen minimalen Lagefehler der Symbole, sie müssen ein bestimmtes Maß an geometrischer Genauigkeit aufweisen. Bei anderen Karten wiederum ist die Genauigkeit weniger wichtig. So ist für Transportpläne die relative Lage von Stationen und Trassen entscheidend. Eine der bekanntesten Formen stark generalisierter Karten sind Netzpläne des öffentlichen Nahverkehrs, wie sie in U- oder S-Bahnen zu finden sind. Kein Mensch würde hier von einer Fälschung sprechen. Die Grenzen zwischen Generalisierung und Verfälschung sind daher fließend.