Ökologie

Vielseitigkeit ist Trumpf…

Von Pionieren, Kulturfolgern und Generalisten

Der Lebensraum Stadt ist durch ständige und unvorhersehbare Veränderungen gekennzeichnet. Abfälle und Nahrungsreste des Menschen, aber auch gezielte Fütterungen finden die Stadttiere an wechselnden Orten zu den unterschiedlichsten Zeiten. Baustellen, Störungen und Verkehr lassen Brut, Ruhe- oder Nahrungsplätze verschwinden oder schaffen neue. Unter diesen fluktuierenden Bedingungen können nur die Tiere überleben, die sich auch auf kurzfristige Änderungen einstellen können.

Spatz © IMSI MasterClips

Dazu gehören vor allem die Generalisten unter den Arten: Tauben und Spatzen beispielsweise fressen in der Stadt (fast) alles, was ihnen vor den Schnabel kommt, Egal ob Brotkrümel, weggeworfene Pommes frites oder der halbgegessene Hamburger – wählerisch zu sein können sie sich nicht leisten. Sehr viel schlechtere Karten haben dagegen ausgesprochene Nahrungsspezialisten, sie können sich nur dort erfolgreich ansiedeln, wo ihre Nahrung reichlich und kontinuierlich vorhanden ist.

Aber nicht nur in Bezug auf die Nahrung ist Vielseitigkeit Trumpf, für Brutverhalten und Neststandorte gilt das Gleiche: Tauben und Amseln haben sich unter anderem auch deshalb so stark ausgebreitet, weil sie es schafften, in den Städten ihre Brutperioden zu verlängern. Das auch im Winter warme Stadtklima und die ganzjährig vorhandenen Nahrung ermöglichen es ihnen, selbst in der kalten Jahreszeit Junge aufzuziehen. Diese Anpassung verschafft ihnen einen enormen Vorteil gegenüber den weniger flexiblen Arten, die nur einmal im Jahr brüten.

Den Schnabel vorn haben die flexiblen Tauben auch im Kampf um die in der Stadt immer knappen Niststandorte: Ursprünglich als Felsbewohner daran gewöhnt, in Felsnischen zu nisten, nutzen sie in den Städten vor allem Dachböden und Gesimse, aber wenn diese bereits von der Konkurrenz besetzt sind, auch Stadtbäume als Nistplatz. In England hat man sogar Taubennester unter den Dachbalken von Fabrikgebäuden gefunden, die vollkommen aus eingesammelten Drahtstücken bestanden.

Grabwespen, die ihre Nester ursprünglich in morschem Holz anlegten, sind in den Städte inzwischen auf den Polystyrolschaum der Blumenkübel umgestiegen. Ihre Grabgänge werden dann im Winter wiederum von Marienkäfern und Ohrwürmern als Überwinterungsorte genutzt.

Neben der Vielseitigkeit in Nahrungs – und Nistplatzansprüchen spielt auch die Anpassungsfähigkeit, die Plastizität des Verhaltens eine entscheidende Rolle. Tiere, die im Dschungel der Stadt überleben wollen, müssen lernfähig sein. Nur so können sie sich neue Nahrungsquellen erschließen und sich an den ständigen Wandel in ihrem Umfeld anpassen. Die Stadtspatzen haben gelernt, daß in der Nähe essender Menschen meist auch etwas für sie abfällt, im Sommer patrouillieren sie daher Straßencafés und Biergärten, immer auf der Suche nach dem heruntergefallenen Stück Brot oder Kuchen.Häufig ist ihr Fluchtdistanz so stark herabgesetzt, daß sie sich aus der Hand füttern lasen.

Auch die Amsel ist nur deshalb heute einer der Stadtvögel schlechthin, weil sie gelernt hat, ihre als einst scheuer Waldvogel einst große Fluchtdistanz zu vermindern. Ebenso wie auch Meisen und Eichhörnchen kann sie heute in Stadtparks und Gärten ihre Nahrung suchen, ohne daß sie bei jedem vorübergehenden Menschen auffliegen muß.

Vielseitigkeit und geringe Ansprüche an die Umwelt sind typische Eigenschaften von Pionierarten. Sie ermöglichen es ihnen, erfolgreich neue Lebensräume zu erschließen und sich dort auszubreiten. Viele der heute in den Städten heimisch gewordenen Tierarten gehören zu dieser Kategorie. Auch unter den Pflanzen sind es, neben den angepflanzten Zierarten, vor allem diese Pioniere, die das Stadtbild prägen. Baustellen, brachliegende Grundstücke, Wegränder – überall dort siedeln zuerst solche Pflanzen, die auf kahlen, trockenen und verdichteten Standorten gedeihen können und denen hohe Stickstoffwerte nicht schaden. Typisches Beispiel sind die Unkräuter Brennessel oder Beifuß, die an fast jeder Baumscheibe zu finden sind.

Blattläuse: R-Strategen © USDA

Für viele dieser Pionierarten typisch ist eine hohe Ausbreitungskapazität verbunden mit einer kurzen Generationszeit. Diese sogenannten R-Strategen produzieren in kurzen Abständen viele Nachkommen, typisches Beispiel sind Mäuse, Kaninchen oder unter den Insekten die Blattläuse. Die kurze Generationsfolge ermöglicht es ihnen, sich relativ schnell an Veränderungen des Habitats anzupassen, durch die hohe Nachkommenzahl können sie starke Populationsschwankungen ausgleichen.

Wird beispielsweise eine Blattlauspopulation, die eine Balkonpflanzen besiedelt hat, durch Anti-Blattlausmittel ausgerottet, ist es oft nur eine Frage der Zeit, bis einige Tiere von benachbarten Standorten die gerade „entlauste“ Pflanze neu „entdecken“ und sich innerhalb weniger Tage so vermehren, daß die Pflanze ebenso befallen ist, wie vor der ganzen Aktion.

Wen wir von Gewinnern und Verlierern sprechen, sind es in erster Linie die Generalisten, die Pioniere und Anpassungskünstler unter den Tier- und Pflanzenarten, die erfolgreich den Lebensraum Stadt erobert haben. Nur wenigen anspruchsvollen Spezialisten ist es gelungen, im neuen Lebensraum Stadt heimisch und erfolgreich zu werden.

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Stand: 06.10.2001

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Lebensraum Stadt
Artenarme Betonwüste oder lebendiger Flickenteppich?

Beton, Blütezeiten und Kälteinseln
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Stadtwetter = schlechtes Wetter?
Regen, Nebel und Sonnenscheindauer

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Klimaanlage Straßenbaum
Die biologische Leistung eines Baums in der Stadt

Artenarm und lebensfeindlich?
Pflanzen- und Tierarten in der Stadt

Zuflucht Stadt?
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Lebendiger Flickenteppich
Von Inseln, Barrieren und Trittbretthabitaten...

Vielseitigkeit ist Trumpf...
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