Rudolf Virchow ist ein klassischer Universalgelehrter des 19. Jahrhunderts. So macht er sich nicht nur als sozialpolitisch engagierter Arzt und Pathologe verdient. Beinahe ebenso erfolgreich ist er als Anthropologe, Ethnologe und Archäologe unterwegs. Rund zehn Jahre nach der Veröffentlichung seines Werks zur Zellularpathologie gründet der Wissenschaftler in Berlin die „Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ sowie die von dieser Gesellschaft herausgegebene Zeitschrift für Ethnologie.
Von Schädeln und Skeletten
„Damit begann in Berlin eine neue Epoche der historisch-archäologisch-anthropologischen
und ethnographischen Forschung, bedeutsam für das deutsche Sprachgebiet insgesamt“, kommentiert der Historiker Joachim Herrmann. Ziel von Virchow und seinen Kollegen ist es, neueste Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Menschenkunde zusammenzutragen. Die Forscher wollen mehr über unbekannte Völker, Kulturen und die Physiognomie des Menschen erfahren.
Zu diesem Zweck sammeln sie alles, was von Fernreisen und Expeditionen mitgebracht wird: Neben Artefakten wie Keramiken werden von den Fachleuten auch menschliche Knochen untersucht, diskutiert und katalogisiert. Virchow trägt in dieser Zeit mehr als 5.000 Skelette und Schädel aus aller Welt zusammen. Die sogenannte Virchow-Sammlung wird heute vom anthropologischen Institut der Humboldt-Universität verwaltet.
Freundschaft mit Schliemann
Von der geballten wissenschaftlichen Expertise der Berliner Fachgesellschaft verspricht sich auch der Archäologe Heinrich Schliemann wertvolle Unterstützung. Er hat gerade seine erste Grabung in Troja vollendet und ist dort unter anderem auf Urnen mit gesichtsähnlichen Verzierungen gestoßen – über ganz ähnliche Gesichtsurnen aus Pommern hat Virchow kurz zuvor eine Publikation herausgebracht.
1875 treffen sich die beiden in Berlin, tauschen sich über ihre Funde aus – und bleiben von nun an in regem Kontakt. Ihr Interesse an der Erforschung unbekannter Epochen der Weltgeschichte verbindet die beiden Wissenschaftler. Und so begibt sich Virchow gemeinsam mit Schliemann auf Reisen: nach Kleinasien, Griechenland und Ägypten. Ja, er hilft seinem Archäologen-Freund sogar dabei, Troja weiter auszugraben. Schliemanns 1881 erschienenes Buch „Ilios, Stadt und Land der Trojaner“ ist in der deutschen Fassung Rudolf Virchow gewidmet.
Die Mär vom Urgermanen
In seiner Heimat versucht Virchow sich auch mit wissenschaftlichen Argumenten gegen die in den 1880er Jahren aufkommenden Überfremdungsängste und den Antisemitismus zu wenden. So regt er unter anderem eine anthropologische Untersuchung deutscher Schulkinder an. In fast allen Bundesstaaten erhebt er Haar-, Haut- und Augenfarbe sowie die Schädelform von insgesamt mehr als 6,7 Millionen Kindern.
Die Ergebnisse veröffentlicht der Wissenschaftler 1886 – getrennt nach Juden und Nicht-Juden. Demnach gibt es im Deutschen Reich gut 30 Prozent Blonde, vierzehn Prozent Brünette und 54 Prozent Mischtypen. Bei den jüdischen Kindern zählt Virchow 47 Prozent Mischtypen, 42 Prozent Schwarzhaarige und elf Prozent, die dem blonden Typus angehören. Damit hat sich seine Erwartung bestätigt: Es gibt gar keine reinen Rassen in Deutschland! Den Vertretern der nationalistisch und rassenideologisch geprägten „Völkischen Bewegung“ gefällt diese Erkenntnis naturgemäß gar nicht.
Daniela Albat
Stand: 08.12.2017