Glücklicherweise dachten meine Eltern nicht so wie meine Großmutter. So wurde mein Genom noch vor meiner Geburt bestimmt und ein mir selbst entsprechendes Computermodell angelegt. Wurde ich krank, konnten alle in Frage kommenden Medikamente zunächst an diesem Modell, welches nahezu alle molekularen Interaktionen der menschlichen Gene, RNAs und Proteine beinhaltet und mit meinen Genomdaten personalisiert ist, auf ihre Wirkung hin überprüft werden. Die wirkliche Behandlung mit der optimalen Medikamentenkombination und der richtigen Dosierung erfolgte schließlich erst nach ausgiebigen Tests an diesem Modell, meinem virtuellen persönlichen Crash-Test-Dummy quasi. Denn diesen konnte man ja schließlich resetten, nachdem er ‚gestorben‘ war, mich nicht.
„Aber du hast mir doch selbst erzählt, dass Opa an Krebs gestorben ist. Und dass er vor seinem Tod monatelang im Krankenhaus lag und an schweren Nebenwirkungen litt, weil er auf keines der Medikamente ansprach. So etwas passiert heutzutage nur noch in den seltensten Fällen! Da musst du mir doch zustimmen, dass die personalisierte Medizin mit Hilfe des virtuellen Patienten erheblich fortschrittlicher ist als die klassische Medizin, Oma!“ Sie antwortet mit einem widerwilligen Grunzen, das ich als Zustimmung werte.
Ebenso wie sie ließen die schnellen Erfolge auf dem Gebiet der Onkologie auch die anderen Kritiker verstummen. Lag die durchschnittliche Ansprechrate von Krebstherapien früher bei rund zehn Prozent und selbst die der fortschrittlichsten sogenannten zielgerichteten Therapien nur bei ca. 30 Prozent, erzielte man mit Hilfe des virtuellen Patienten Ansprechraten von über 90 Prozent. Nebenwirkungen gab es so gut wie keine mehr. Krebs war auf einmal keine tödliche Bedrohung mehr. Als sich dann noch die ersten Erfolge bei anderen Volkskrankheiten wie Diabetes und Herzerkrankungen einstellten, waren auch die letzten Zweifler überzeugt vom virtuellen Patienten. Inzwischen gibt es weitaus weniger lebensbedrohliche Krankheiten und viele davon können mittlerweile vorhergesagt und präventiv behandelt werden.
Alexander Kühn /MPI für molekulare Genetik
Stand: 27.04.2012