Sehr wahrscheinlich empfangen viele Tiere visuelle Reize überhaupt nur in Form von Bewegungen und sind gegenüber statischen Objekten mehr oder weniger blind. Es ist vorwiegend ein Privileg der Wirbeltiere, still stehende Bilder sehen zu können. Doch nicht bei allen ist diese Fähigkeit so ausgeprägt wie beim Menschen. Tatsächlich gelingt uns das statische Bildsehen auch nur unter Anwendung eines Tricks.
Denn die menschlichen Photorezeptoren reagieren nur auf Veränderungen im Lichtfluss und nicht auf dessen absoluten Betrag. Wir erreichen diese Veränderungen durch so genannte Mikrosakkaden: Auch wenn wir einen Punkt fixieren, die Augen dabei nicht bewegen, zittern sie doch ständig mit sehr kleiner Amplitude. Die Abbilder der Helligkeitskanten im Gesichtsfeld ändern dabei ständig ihren Ort auf der Netzhaut und sorgen so für visuelle Bewegung. Während dieser Mechanismus in den zentralen Bereichen unseres Gesichtsfeldes gut funktioniert, bleiben die peripheren Teile weitgehend blind, solange sich dort nichts bewegt. Die Dichte der Photorezeptoren und damit die räumliche Auflösung ist in der äußeren Netzhaut viel niedriger. Die kleinen Bewegungen der Mikrosakkaden reichen nicht aus, um die Bilder im Gesichtsfeld genügend zu verschieben.
In der Natur spielt Bewegung eine zentrale Rolle. Die Fähigkeit, biologische Bewegung und damit andere Lebewesen schnell zu erkennen und adäquat auf sie zu reagieren, ist in hohem Grade überlebenswichtig. Auf andere Lebewesen muss unter Umständen mit Flucht oder Angriff reagiert werden. In beiden Fällen kommt es darauf an, dies so schnell wie möglich zu tun. Wenn es sich bei dem anderen Tier um einen Artgenossen handelt, sind oft komplexe soziale Verhaltensweisen gefragt. Dafür müssen Geschlecht, Alter, Gesundheit, sozialer Status und viele andere biologisch und sozial relevante Merkmale des Artgenossen richtig eingeschätzt werden. Die Bewegungen eines Lebewesens informieren nicht nur über dessen Handlungen, sondern auch über seine Identität.
Menschen zeichnen sich durch eine hochentwickelte Sozialstruktur und vielleicht das komplexeste kommunikative Verhalten im gesamten Tierreich aus. Eine zentrale Voraussetzung für diese soziale Komplexität ist die Fähigkeit, andere Menschen individuell wiederzuerkennen – an der Stimme, am Geruch, am Aussehen. Während dabei sicherlich das Erkennen des Gesichts an erster Stelle steht, sind auch die Details biologischer Bewegungsmuster wichtig.
Wir erkennen einen Bekannten an der Art, wie er sich bewegt. Wir sehen den Bewegungen eines fremden Menschen an, ob es sich um Mann oder Frau, Kind oder Erwachsenen handelt. Bewegungen vermitteln uns einen ersten Eindruck über Emotionen und Persönlichkeitsmerkmale und haben Einfluss darauf, ob wir unser Gegenüber sympathisch oder gar sexuell attraktiv finden.
Im Labor „BioMotionLab“ der Fakultät für Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum untersuchen die Forscher in einer breit angelegten Studie, wie unser Gehirn funktioniert, wenn komplexe biologische Bewegungsmuster verarbeitet werden. Das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Projekt gliedert sich in drei Teilbereiche: Zunächst untersuchen die Wissenschaftler, wo genau die Information steckt und wie man sie aus dem komplexen Bewegungsmuster auslesen kann. Weiterhin ist interessant, welche Bestandteile der Information tatsächlich wahrgenommen werden und welche Mechanismen dabei ablaufen. Schließlich beobachten die Wissenschaftler mit verschiedenen physiologischen Methoden das menschliche Gehirn bei der Arbeit.
Stand: 11.06.2004