Das Phänomen von Inselbegabungen ist nicht neu. Die erste historische Beschreibung eines Savants – wenngleich noch nicht unter dieser Bezeichnung – stammt bereits aus dem Jahr 1789. Der amerikanische Arzt und Humanist Benjamin Rush berichtet darin über eine Begegnung mit Thomas Fuller, einem afrikanischen Sklaven, der unerklärlich gute Rechenfähigkeiten besaß, aber ansonsten stark zurückgeblieben war. „Er verstand praktisch gar nichts, weder theoretisch noch praktisch“, schreibt Rush. Wenn Fuller aber gebeten wurde, auszurechnen, wie viele Sekunden ein Mann gelebt hätte, der 70 Jahre, 17 Tage und zwölf Stunden alt ist, gab er innerhalb von nur eineinhalb Minuten die korrekte Antwort von 2.210.500.800 Sekunden und hatte dabei sogar die 17 Schaltjahre mit einberechnet.
„Idiots savants“
In der wissenschaftlichen Welt tauchen Beispiele für diese Art der besonderen Begabungen erst rund hundert Jahre später auf, in Beschreibungen des britischen Neurologen John Langdon Down, der auch als erster das nach ihm benannte Down-Syndrom detailliert charakterisiert hatte. Er berichtet von zehn Fällen, die er in seiner 30-jährigen Laufbahn im Earlswood Asyl untersucht hatte und bezeichnet sie als „idiots savants“ – abgeleitet vom französischen Wort für „wissen“ – savoir. In abgewandelter Form ist Downs Wortschöpfung bis heute als „Savant-Syndrom“ erhalten geblieben, der offiziellen Bezeichnung für diese Inselbegabungen.
Eine Palette von Fähigkeiten
Alle von Down beschriebenen Personen wiesen ungewöhnliche musikalische, mathematische oder mechanische Fähigkeiten auf und besaßen ein sehr gutes Gedächtnis für bestimmte Details. Einer von ihnen hatte beispielsweise das sechs Bände umfassende Werk „Aufstieg und Fall des römischen Reiches“ aus dem Jahr 1776 von Edward Gibbons Wort für Wort im Kopf und konnte daraus zitieren – allerdings ohne den Inhalt zu verstehen. Ein Kind konnte dagegen naturgetreu zeichnen, „aber hatte vergleichsweise Leere in allen höheren Fähigkeiten des Geistes“, so Down. Ein anderer Junge konnte weder die Uhr noch einen Kalender lesen, besaß aber einen ungewöhnlich ausgeprägten Sinn für Zeitabschnitte.
„Blind Tom“ Bethune
Eine ungewöhnliche musikalische Begabung sorgte auch während des amerikanischen Bürgerkriegs für Aufsehen. Thomas Wiggins wurde 1850 als Kind mit seinen Eltern als Sklave an den Rechtsanwalt James Bethune verkauft und wuchs auf dessen Plantage in Georgia auf. Von Geburt an blind, begann der Kleine schon mit vier Jahren, Melodien nachzuspielen und komponierte mit fünf sein erstes eigenes Musikstück. Auf sein Talent aufmerksam geworden, engagierte Bethune einen Musiklehrer für den Jungen, von dem dieser innerhalb von zwei Jahren mehr als 7.000 Musikstücke lernte. Schon nach einmaligem Hören konnte er ein beliebiges Stück nahezu fehlerlos reproduzieren.
Als „Blind Tom“ trat er bald in Konzerten auf und spielte 1860 sogar im Weißen Haus vor dem amerikanischen Präsidenten James Buchanan. Als „achtes Weltwunder“ gefeiert, unternahm er mit 16 Jahren sogar eine Welttournee. Doch trotz seiner musikalischen Begabung umfasste sein sprachliches Vokabular kaum hundert Wörter, er sprach von sich nur in der dritten Person: „Tom freut sich Sie zu sehen“ und trat mit anderen kaum in Kontakt.
Mehr als hundert Jahre später charakterisiert der Neurologe Oliver Sacks in seinem Buch „Ein Anthropologe auf dem Mars“ „Blind Tom“ als eindeutig autistisch: „Obwohl Tom damals normalerweise als Idiot oder Verrückter bezeichnet wurde, sind sein Verhalten und seine Stereotypien eher charakteristisch für Autismus – aber dieser war 1860 weder als Begriff noch als Konzept bekannt.“
Nadja Podbregar
Stand: 12.12.2008