Als Sissa ibn Dahir seinem Herrscher das Schachspiel vorstellte, war der Fürst von der Erfindung seines Untertanen so angetan, dass er ihm einen Wunsch erfüllen wollte. Was sich Sissa daraufhin erbat, schien bescheiden: Er wünschte sich ein Weizenkorn auf das erste Feld des Schachspiels und dann eine Verdopplung der Gabe bis hin zum Feld 64. Doch sein Wunsch erwies sich als unerfüllbar: Bald stellte sich heraus, dass sich auf dem Schachbrett Weizenkornberge türmen würden, die alle vorstellbaren Grenzen sprengen. Die „Weizenkornlegende“ soll sich im dritten oder vierten Jahrhundert nach Christus in Indien ereignet haben.
Rechenleistung folgt Potenzgesetz
Etwas Ähnliches findet derzeit in der modernen Informationsverarbeitung statt, die seit ihrem Anbeginn eine rapide Entwicklung erfährt. Sie lässt sich erstaunlicherweise in nahezu allen Aspekten mit dem oben beschriebenen, einfachen mathematischen Zusammenhang charakterisieren: Die Rechenleistung, die Dichte von Transistoren und viele andere Kenngrößen verdoppeln sich in einem relativ kurzen Zeitraum von etwa zwei Jahren.
Mathematisch betrachtet handelt es sich dabei um ein Potenzgesetz, das nach einem Gründer der Firma Intel das „Moore‘sche Gesetz“ genannt wird. Im Gegensatz zu dem mit den Jahren vielleicht linear ansteigenden Umfang einer Briefmarkensammlung besteht hier ein explosionsartiges Wachstum, dessen wahre Dynamik sich häufig erst dann erschließt, wenn die erreichten Zahlen tatsächlich riesig werden – so, wie bei der Weizenkornlegende, wo die wahre Dramatik auch erst auf den letzten Feldern des Schachbrettes sichtbar wird: Jede weitere Verdoppelung macht die einmal erreichte Zahl immer aberwitziger.
Dominanz der Computer in Sicht?
Die Frage ist: Sind wir in der Informationstechnologie bereits auf den letzten Feldern des Schachbretts angekommen? Das ist ein viel diskutiertes Thema. Moderne technische Entwicklungen weisen jedoch darauf hin, dass das Ende in absehbarer Zeit noch nicht in Sicht ist. Das Thema ist nicht nur für Computerfachleute interessant – es ist von unmittelbarer Brisanz für uns alle – denn Informationsverarbeitung findet nicht nur auf unserem Laptop im Büro, sondern auch in unserem Kopf statt.
Die sich in diesem Zusammenhang aufdrängenden Fragen sind fundamental: Könnte es sein, dass mein Computer irgendwann einmal mehr kann als mein Gehirn? Werde ich von Computern abhängig? Könnte es gar sein, dass mein Computer in Zukunft eigene Intelligenz aufweisen wird? Die ersten beiden Fragen würden einige unter uns vermutlich schon heute mit einem – eingeschränkten – Ja beantworten. Die dritte Frage ist zurzeit noch Stoff für Science-Fiction-Romane.
Karlheinz Meier / Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 31.10.2008