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Phänomene

Vom Reiz zur Reaktion

Neurologische Vorgänge im Reflexbogen

Ein Reflex ist definitionsgemäß eine nicht bewusst steuerbare Reaktion unseres Nervensystems auf einen Reiz, die immer identisch abläuft. Am anschaulichsten zeigt dies der Hämmerchen-Test auf unserem Knie. In diesem Fall trifft ein sanfter Schlag die Patellarsehne unterhalb der Kniescheibe, woraufhin die Sehne am benachbarte Muskel zieht. Dort erkennen sensorische Zellen diesen Reiz und melden ihn in Form von elektrischen Signalen über eine lange Nervenfaser an das Rückenmark.

Dort überträgt sich das Signal über eine Synapse automatisch auf einen anderen Nerv, der die Information an den Muskel im Oberschenkel – den großen Kniestrecker – sendet, sich zusammenzuziehen. Daraufhin hebt sich das untere Bein, das Knie wird unwillkürlich durchgestreckt.

Eigen- und Fremdreflexe

Erstmals beschrieben haben Mediziner solche Reflexe bereits 1875. Heute unterscheiden sie zwischen sogenannten Eigen- und Fremdreflexen. Gemeint ist damit, ob die Reaktion im selben Körperteil ausgelöst wird, von dem der Reiz ausgeht, oder ob Wahrnehmung und Effekt in zwei getrennten Organen auftreten.

Anatomisch besteht der Unterschied meist darin, dass beim Eigenreflex nur eine einzige Signalübertragung zwischen zwei Nerven stattfindet; daher wird diese Reaktion auch monosynaptischer Reflex genannt. Beim pluri- oder polysynaptischen Reflex, dem Fremdreflex, sind hingegen mehrere Nervenzellen und Synapsen an der Informationsverarbeitung beteiligt.

Beispiele für typische Eigenreflexe sind der beschriebene Patellarsehnenreflex oder der Achillessehnenreflex, wobei jeweils die benachbarten Muskelstränge der Sehnen aktiviert werden. Fremdreflexe sind beispielsweise der Lidschlag oder der Würgereflex. Bei letzterem führt ein Reiz im hinteren Rachen, am Gaumen oder der Zunge zur Kontraktion der Rachenmuskulatur.

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Darstellung des Aufbaus eines Reflexbogens am Beispiel des Kniesehnenreflexes
Aufbau eines Reflexbogens am Beispiel des Kniesehnenreflexes. © Andreas Raether/CC-by 4.0

Reflexbogen

Allen Reflexen gemeinsam ist, dass periphere Nerven in unseren verschiedenen Körperteilen automatisch mit Teilen des zentralen Nervensystems interagieren. Das kann das Rückenmark sein oder auch Teile unseres Gehirns im Hirnstamm. Anders als bei bewussten Handlungen ist bei angeborenen Reflexen das Gehirn aber nicht der Befehlsgeber, sondern Befehlsempfänger – oder gar nicht erst involviert. Das Nervensignal nimmt gewissermaßen eine Abkürzung unter Umgehung des Cortex als Steuerzentrale.

Die Rückmeldung des zentralen Nervensystems erfolgt dann an Muskel- oder Hautzellen einer bestimmten Körperregion oder an ganze Organe und löst die sichtbare motorische Reaktion aus. Alle an einer Reizreaktion beteiligten Sensor-, Nerven- und Effektor-Zellen bilden zusammen einen sogenannten Reflexbogen aus Ursache und Wirkung.

Unechte Reflexe

Umgangssprachlich spricht man auch vom Niesreflex. Aber: „Das Niesen ist kein echter Reflex“, sagt der Arzt Fabian Singbartl von der Asklepios Klinik Harburg in Hamburg. Denn der Ablauf beim Niesreiz ist deutlich komplexer, hat ganz verschiedene Auslöser und wird nicht allein über die Neuronen des zentralen Nervensystems gesteuert, sondern auch über Botenstoffe im Gehirn.

Auch beim sogenannten gastrokolischen Reflex handelt es sich nicht um einen über das Nervensystem vermittelten echten Reflex, sondern einen eher langsamen und hormonellen Vorgang. Der Prozess sorgt dafür, dass sich der Dickdarm leert, wenn sich der Magen füllt.

Ein Mittelding ist dagegen der Speichelreflex. Dieser wird zum einen ausgelöst, wenn chemische und mechanische Rezeptoren in Mund und Nase Essensmoleküle beziehungsweise Kaubewegungen wahrnehmen. Zum anderen führen manchmal allein der Anblick oder die Vorstellung einer leckeren Speise dazu, dass uns das Wasser im Mund zusammenläuft. Während ersteres ein angeborener, unbedingter Reflex ist, ist die zweite Reaktion erlernt. Weil der Lerneffekt unbewusst über Konditionierung verläuft, spricht man von einem sogenannten bedingten Reflex. In diese Zwischenkategorie fällt übrigens auch der Flucht- und Abwehrreflex.

Individuelle Ausprägung

Für gewöhnlich sind Reflexe hilfreiche Körperreaktionen, die bei allen Gesunden im entspannten Zustand ausgelöst werden können. Wie ausgeprägt die jeweilige Reaktion ausfällt, ist jedoch von Mensch zu Mensch verschieden und kann sich auch zwischen den Reflexen unterscheiden. Bedenklich ist das in der Regel nur, wenn die Reflexe nicht in beiden Körperhälften gleich stark auftreten.

Mit zunehmendem Alter können die Reflexe insgesamt an Intensität verlieren. Beispielsweise ist der Achillessehnenreflex ab etwa 85 Jahren kaum noch vorhanden, weswegen ältere Menschen auch häufiger stolpern und hinfallen.

Diagnose mithilfe von Reflexen

Ob und in welcher Intensität Menschen Reflexe zeigen, gibt Ärzten hilfreiche Hinweise auf den Zustand ihres Nervensystems. Neben besagtem Kniehämmerchen greifen Mediziner bei neurologischen Untersuchungen daher beispielsweise auch zu einer Taschenlampe, um den Pupillenreflex zu testen. Wenn er ausbleibt, kann das auf eine massive Hirnschädigung hinweisen.

Mediziner testet einen Patienten an der Fußsohle auf den Babinski-Reflex
Der Babinski-Reflex ist bei Erwachsenen ein Hinweis auf einen Nervenschaden. © Jan-Otto / iStock

Bei bestimmten Erkrankungen oder Verletzungen des Nervensystems kann es auch zu verminderten oder untypischen Reflexen kommen, was sich ebenfalls zur Diagnose nutzen lässt. Ein beschleunigter Blinzelreflex kann beispielsweise auf eine Gehirnerschütterung hinweisen und der sogenannte Babinski-Reflex einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung anzeigen. Bei Letzterem streckt und hebt sich der große Zeh, während alle anderen Zehen sich spreizen oder beugen. Ausgelöst wird dies durch ein Streichen der Fußsohle am äußeren Fußrand.

Bei Autisten ist wiederum der sogenannte vestibulo-okuläre Reflex (VOR) übermäßig aktiv: Wenn sich unser Kopf plötzlich dreht, bewegen sich die Augen ebenso schnell in die entgegengesetzte Richtung, um den Blick stabil zu halten. Auch das hilft zur Diagnose: „Wir können es bei Kindern mit Autismus messen, die nicht sprechen oder Anweisungen nicht befolgen können oder wollen“, sagt Kevin Bender von der University of California in San Francisco, dessen Team diesen Effekt kürzlich entdeckt hat (doi: 10.1016/j.neuron.2024.01.029). Ein verstärkter oder verminderter Pupillenreflex könnte ebenfalls auf Autismus hinweisen, wie verschiedene Studien nahelegen. Wie aussagekräftig dieser Test ist, ist aber noch unklar.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Das Geheimnis der Reflexe
Wie Automatismen unseren Körper steuern

Skurrile Reflexe
Wann unser Körper automatisch reagiert

Vom Reiz zur Reaktion
Neurologische Vorgänge im Reflexbogen

Blitzschnelle Reaktionen
Wozu hat uns die Natur Reflexe gegeben?

Von Moro bis Babinski
Frühkindliche Reflexe

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