Jedes unserer Gene enthält den Code für ein bestimmtes Protein – es ist quasi die Bauanleitung für diese wichtigen Funktionsträger unseres Organismus. Doch bei der Entschlüsselung unseres Genoms im Rahmen des Humangenomprojekts wurde schnell klar, dass weite Bereiche unsers Erbguts keine solcher Bauanleitungen enthielten. Stattdessen schienen sie aus unsinnigen, teilweise vielfach wiederholten, funktionslosen DNA-Abschnitten zu bestehen. Als „Junk-DNA“ – Schrott-DNA – bezeichneten Wissenschaftler demzufolge diese Abschnitte.
Nur zwei Prozent echte Gene?
Doch als sich Genforscher den Anteil der proteincodierenden Gene in unserer DNA genauer anschauten, wurden sie stutzig: Unser Erbgut besteht im Prinzip fast nur aus „Junk-DNA“: 44 Prozent des Erbguts bestehen aus Wiederholungen – zahllosen Kopien von Genen und Genbruchstücken. Weitere gut 52 Prozent sind auf den ersten Blick völlig sinnlos, kodieren auf jeden Fall keine Proteine. Das aber bedeutet im Endeffekt: Nur zwei bis vier Prozent unserer DNA enthalten tatsächlich proteinkodierende Gene.
Wozu aber dient der ganze Rest? „Wieso die Evolution abgesehen von diesen Gensequenzen Unmengen an nutzloser DNA erhalten hat, war lange ein Mysterium“, erklärt Ewan Birney, leitender Koordinator des Encyclopedia of DNA Elements Projekts (ENCODE). 2004 lieferte eine Studie immerhin eine erste Antwort auf diese Frage. “Die Wüste lebt” – unter diesem Titel berichteten US-amerikanische Forscher von einer erstaunlichen Erkenntnis: Viele nicht-kodierende Abschnitte der DNA sind alles andere als untätig. Ganz im Gegenteil: Sie enthalten Sequenzen, die andere Gene an- oder abschalten können und dies über große Distanzen hinweg.
„Müll“ als Regulator?
Damit könnte der vermeintliche „Müll“ im Erbgut sogar eine ziemlich entscheidende Rolle in der Regulation der Genaktivität spielen – und zumindest in Teilen erklären, warum selbst Organismen mit bis auf wenige Prozent identischen Genen so grundlegend verschieden sind wie Mensch und Maus oder Mensch und Affe. Und noch etwas entdeckten die Forscher des Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) und des Genome Institute (JGI): In der Junk-DNA gibt es Abschnitte, die im Laufe der Evolution relativ stabil geblieben sind, aber auch solche, die erhebliche Veränderungen durchgemacht haben.
Es zeigte sich: Die stabilen Teile der Junk-DNA enthalten eine große Anzahl von regulatorischen Elementen, die sich durch kopierte DNA-Sequenzen schützen. „Es gibt viele Hinweise darauf, dass stabile Genwüsten eine Art Schatztruhen multipler Genregulations-Elemente sind, die die komplexe Funktion der benachbarten Gene schützen“, erklärt der Bioinformatiker Ivan Ovcharenko vom LLNL. Die veränderlichen Genabschnitte hingegen, die etwa zwei Drittel der „Genwüsten“ und nahezu 20 Prozent des gesamten Genoms umfassen, könnten tatsächlich ohne jede biologische Funktion sein, so jedenfalls glaubte Ovcharenko noch im Jahr 2004.
Ein gigantisches Schaltpult
Inzwischen ist klar, dass der Forscher irrte: In Wirklichkeit bildet fast die gesamte Junk-DNA ein gewaltiges Steuerpult für unser Erbgut: Sie enthält Millionen molekularer Schalter, die unsere Gene nach Bedarf an- und abschalten können – und dies auch dort, wo zuvor nur instabile Wüste vermutet wurde. „Unser Genom ist ganz offensichtlich nur lebendig mithilfe von Schaltern: Millionen von Abschnitten, die bestimmen, ob Gene an- oder ausgeschaltet sind“, konstatierte das Team des ENCODE-Projekts.
So gibt es innerhalb der Junk-DNA allein 200.000 bis eine Million sogenannter Enhancer. Diese bis zu 1.500 Basenpaare langen DNA-Abschnitte sorgen dafür, dass die ihnen zugeordneten Gene abgelesen werden. Merkwürdig allerdings: Meist liegen die Enhancer weit von ihren Genen entfernt – oft trennen sie mehrere tausend DNA-Basen. Wie diese Steuerelemente es schaffen, trotzdem ihr Gen rechtzeitig und gezielt anzuschalten, blieb lange ein Rätsel.
Wie funktioniert die Regulation?
Im Jahr 2018 ist es jedoch einem Team um Thomas Gregor von der Princeton University erstmals gelungen, einen solche Enhancer auf frischer Tat zu ertappen: Sie markierten in Fruchtfliegen-Embryos mehrere Enhancer und ihre Zielgene mit Fluoreszenzmarkern und konnten so live beobachten, wie die Regulation vonstatten geht. Dies enthüllte: Die Schalter und ihre Zielgene liegen zwar im DNA-Strang weit auseinander, das Erbgut bildet aber in der aktiven Zelle Schleifen und Falten, die beide Abschnitte zueinander bringen.
Damit Gene im Erbgut abgelesen werden können, muss sich demnach erst die dreidimensionale Anordnung des DNA-Strangs verändern – quasi die Landschaft des Genoms. Sobald Steuerelement und Zielgen in engem Kontakt sind, beginnt die Transkription, der Enhancer schaltet das Gen an. Enfernen sich beide Akteure wieder voneinander, endet das Ablesen.