Noch während die verzweifelten Maßnahmen an den Reaktoren von Fukushima anhalten, stellen sich Japaner und Menschen weltweit bange „Was wäre wenn“-Fragen: Was ist, wenn alle Maßnahmen nichts mehr helfen? Wenn Fukushima sich selbst überlassen werden muss? Eine Woche nach dem Tsunami bleibt die japanische Regierung zunächst bei der Evakuierung nur einer 20 Kilometer Zone um das Atomkraftwerk. Doch im Ausland häufen sich schnell die Stimmen, die diese Sicherheitsmaßnahmen für die Bevölkerung für unzureichend halten.
Der Vorsitzende der amerikanischen Nuclear Regulatory Commission (NRC), Gregory Jaczko, erklärt vor dem amerikanischen Kongress: „Basierend auf den verfügbaren Informationen, die wir haben, würden wir bei einem vergleichbaren Vorkommnis in den USA eine weitaus großräumigere Evakuierung empfehlen, als sie jetzt in Japan stattfindet.“ Er rät allen Amerikanern, mindestens 80 Kilometer Abstand zwischen sich und das Atomkraftwerk Fukushima zu bringen. Die französische Regierung empfiehlt ihren Landsleuten, nicht nur die Region um Fukushima, sondern auch Tokio zu verlassen.
Zwar hat der Wind über Japan wieder auf West gedreht, so dass radioaktive Partikel von Fukushima aus auf den Pazifik und nicht Richtung Tokio wehen. Messungen im Großraum Tokio registrieren nur eine Erhöhung der Radioaktivität um 0,144 Mikrosievert pro Stunde, das entspricht einer Verdopplung der natürlichen Hintergrundstrahlung. Dennoch haben die meisten Ausländer und viele Japaner bereits der Stadt den Rücken gekehrt. Auch die Deutsche Botschaft verlegte ihren Sitz vorübergehend in das weiter südlich gelegene Osaka .
„Die meisten Ausländer, die ich in Tokio kenne, sind bereits weg, entweder in andere Landesteile oder ins Ausland“, berichtete Nature-Redakteur David Cyranoski im Nature-Blog „The Great Beyond“. „Viele ausländische Unternehmen geben Evakuierungsanordnungen heraus, andere, darunter auch Nature, richten temporäre Büros in anderen Teilen des Landes ein.“ Auch die Studiomitarbeiter und Reporter der meisten deutschen Fernsehsender sind nach Osaka ausquartiert.
Knapp an der Katastrophe vorbei
Nach mehr als einer Woche verzweifelter Versuche, den Super-GAU, das Entweichen großer Mengen radioaktiver Spaltprodukte zu verhindern, gibt es Hoffnung. Zwar ist die Umgebung Fukushimas verseucht, aber eine Explosion im Maßstab von Tschernobyl oder ein Durchschmelzen der Reaktorkerne in das Erdreich bleibt aus. Damit schrammt auch die Hauptstadt Tokio nur knapp an der ultimativen Katastrophe vorbei. Denn einige Tage Beginn der Katastrophe dreht der Wind – wäre dann erneut eine Explosion erfolgt und dabei Radioaktivität ausgetreten, hätte es auch die Metropole getroffen.
Was aber hätte man dann tun sollen? Eine Evakuierung von mehr als 35 Millionen Menschen halten alle Experten einhellig für unmöglich. „Wenn es jemand schaffen könnte, dann der japanische Katastrophenschutz, der zu den besten weltweit gehört“, zitiert Focus damals den Vorsitzenden des Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge (DKKV), Gerold Reichenbach. „Aber in so kurzer Zeit so viele Menschen aus Tokio rauszuholen, ist undenkbar. Denn man muss die Leute ja nicht nur rausbringen, man muss sie auch unterbringen, ihre elementarsten Bedürfnisse wie Wasser, Sanitäranlagen oder Unterkunft decken.“
Evakuierung logistisch unmöglich?
In der Präfektur Fukushima war schon kurz nach dem 11. März 2011 sichtbar, was es bedeutet, eine potenziell radioaktiv verseuchte Region zu evakuieren: Jede aus dem Gebiet kommende Person muss zunächst per Messgerät auf eventuelle Verstrahlung kontrolliert und dann gegebenenfalls dekontaminiert werden. Bei mehreren Millionen Betroffenen ein kaum zu realisierender Aufwand. Etwas dieser Größenordnung Vergleichbares ist noch niemals auch nur versucht worden.
Und Japan, das ohnehin zu den am dichtesten bevölkerten Regionen der Erde gehört, hätte im Falle einer noch großräumigeren Verseuchung besonders schlechte Karten. Das gesamte Landesinnere ist gebirgig und kaum bewohnbar, die Bevölkerung drängt sich entlang der Küsten. Wäre der gesamte Norden durch einen Super-GAU verstrahlt werden, hätten alle Einwohner dieser Regionen in den Süden des Landes in Sicherheit gebracht werden müssen – und dies nicht auf Tage, sondern möglicherweise für Jahre und Jahrzehnte. Und noch dazu hätte die Evakuierung kurzfristig, innerhalb von Stunden und Tagen erfolgen müssen.
Diese ultimative Katastrophe ist ausgeblieben. Aber auch so ist die Verseuchung weiter Gebiete um Fukushima groß genug und die Folgen für die Bevölkerung dramatisch. „Auf dem Boden im näheren Umkreis des AKW wird die nächsten Jahrzehnte niemand die Kühe auf die Weide bringen“, erklärt Hans-Josef Allelein, Professor für Reaktorsicherheit und -technik an der RWTH Aachen bereits wenige Tage nach der Katastrophe. Seine Prognosen sollten sich bestätigen. Noch heute, zwei Jahre später, bleiben zahlreiche Orte um den Reaktor Sperrgebiet. Andere wurden aufwändig dekontaminiert und sollen wieder bewohnbar sein – angebelich. Doch die Menschen trauen den Behörden nicht mehr. Vor allem Familien mit Kindern wollen nicht in das verseuchtge Gebiet zurückkehren…
Nadja Podbregar
Stand: 08.03.2013