Unkontrollierter Wohnungsbau mit Baulückenschließung, Aufstockung von Geschossen und Nutzung der Innenhöfe durch Anbauten prägen den Städtebau Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Es gibt zwar Bauordnungen und Baugesetze, doch die sind wenig aussagekräftig und die Vorschriften sind leicht zu umgehen. So ist zum Beispiel noch nicht einmal eine zulässige Höchstgeschosszahl festgelegt. Allerdings existiert dafür eine Feuerpolizeiliche Bestimmung, wonach die Innenhöfe eine Mindestgröße – die Ausmaße eines aufgespannten Feuerwehrsprungtuches, das heißt mindestens 5,30 Meter mal 5,30 Meter – haben müssen.
1862 wird in Berlin wegen der nötigen immensen Bautätigkeiten ein neuer Bebauungsplan (Hobrechtplan) ausgearbeitet. Die Ausweisung von Neubaugebieten lockt eine Menge Bodenspekulanten an – jeder der Geld hat, kauft Baugrund. Die Bauern im Berliner Umland werden so über Nacht zu „Millionenbauern“.
Um den Zustrom an Menschen aus dem Umland aufzufangen, werden beim ersten Bauboom in den gründerzeitlichen Städten so genannte Mietskasernen – vier- bis sechsgeschossige Mehrfamilien-Mietshäuser mit Hinterhöfen und Seitenflügeln – gebaut. In diesen Häusern werden die Menschen auf unwürdige und elende Art und Weise zusammengepfercht. Besonders typisch für die Mietskasernen sind die schlechte Belichtung, Besonnung und Durchlüftung, ebenso wie die enge räumliche Verzahnung von Wohnen und Arbeiten.
Nach der Gründung des Deutschen Reiches und den französischen Reparationszahlungen (1871) wächst der Zustrom nach Berlin noch weiter an. Die Ärmsten der Armen hausen auf den Straßen und öffentlichen Plätzen, bis sie von der Polizei in Gewahrsam genommen werden. Die, die sich noch eine Wohnung leisten können sind froh, doch aus der Notlage vieler Menschen wollen die Hauwirte nun Profit schlagen. Sie erhöhen die Miete von Quartal zu Quartal, bis die Kosten für die Wohnung fast ein Drittel des Verdienstes ausmachen. Auch skrupellose Spekulanten wollen durch Kauf und Verkauf von Bauland aus der Not anderer Geld machen. Außerdem versuchen sie die höchste bauliche Ausnutzung ihrer Grundstücke zu erzielen. An die Häuser werden Seitenflügel und Quergebäude gesetzt, und die hintereinander aufgereihten Innenhöfe werden durch Toreinfahrten miteinander verbunden. Ein Ende dieses Baubooms ist nicht abzusehen…
Es kommt so weit, dass viele Arbeiter sich nur noch Kleinstwohnungen leisten können – meistens in den düsteren und schäbigen Hinterhöfen oder Seitenflügeln der Mietskasernen. Noch katastrophaler sind die Verhältnisse in den vielen Kellerwohnungen. Nach der Bauordnung von 1853 muss die Deckenhöhe von Kellerwohnungen lediglich 94 Zentimeter betragen. Außerdem sind durch die tiefe Lage zur Straße die Decken und Wände ständig feucht und die Gerüche aus den Rinnsteinen liegen permanent in der Luft…
Wer sich eine größere Wohnung leisten kann, tut das nur um sie weiter unter zu vermieten. Um die Jahrhundertwende wird so der Begriff des Schlafleutewesens geprägt. 100.000 Schlafleute und rund 50.000 Untermieter erhöhen in dieser Zeit die Wohnungsbelegung in Berlin um ein Vielfaches. Es kommt sogar zum Teil so weit, dass ein Bett mehrmals vermietet wird – ein Nachtarbeiter schläft tagsüber darin, ein Tagarbeiter nachts. Eine andere Möglichkeit der Hauseigentümer die Wohnungssuchenden auszunutzen, ist das so genannte Trockenwohnen. Häuser, die sie im Winter fertig stellen, werden zu niedrigen Preisen vermietet. Bis zum Frühjahr ist die Feuchtigkeit dann aus den Häusern raus – die „Trockenwohner“ werden auf die Straße gesetzt und neue, zahlungskräftige Mieter beziehen die Häuser.
Stand: 27.06.2001