Von gedachten Figuren und weißerem Weiß

Formen und Helligkeit

Wie unterscheiden wir zwischen Hintergrund und Formen? Unter natürlichen Bedingungen ergibt sich diese Schlussfolgerung meist automatisch aufgrund unserer Erfahrung: Eine Wolkendecke wird nicht als Hintergrund für kleine blaue Himmelsfetzen wahrgenommen. Bei abstrakteren Darstellungen stößt unsere Interpretationsfähigkeit schon mal auf Grenzen. Es sind bestimmte Gesetzmäßigkeiten, nach denen unser Wahrnehmungssystem versucht, sich ein Bild zu machen.

Vorliebe für Symmetrie

Besonders gerne nimmt unser Gehirn einheitliche, einfache und geschlossene Formen wahr. Symmetrie stillt dieses Verlangen nach Ordnung und prägnanten Figuren. Flächen mit symmetrischen Begrenzungen werden demnach lieber als Formen gedeutet als sie umgebende unsymmetrische Flächen. Sind die symmetrischen Flächen zu groß, liegen ihre Begrenzungslinien also zu weit auseinander, treten sie jedoch in den Hintergrund gegenüber den kleineren Formen. Hier dominiert nun das „Gesetz der Nähe“. Auch abgeschlossene Formen überstimmen die Symmetrie. Nach außen gewölbte – konvexe – unsymmetrische Flächen werden vor symmetrischen wahrgenommen.

Mit diesen Abwägungen gelingt es uns im allgemeinen, Hinter- und Vordergrund einer Abbildung zu erkennen. Bei so genannten „Figur-Hintergrund-Bildern“ treten die Gruppierungsgesetze in Konkurrenz zueinander, eine eindeutige Formerkennung wird so erschwert.

Mach-Illusion
Die Mach-Streifen © gemeinfrei

Hell ist nicht gleich hell

Wie hell oder dunkel wir eine Fläche empfinden, ist stark von ihrer Umgebung abhängig. Vor einem dunklen Hintergrund wirkt ein weißes Objekt wesentlich heller als vor einem hellen Hintergrund. Es liegt an unseren Sehzellen, die so beschaffen sind, dass sie Helligkeitsunterschiede benachbarter Flächen verstärken. Hierdurch können wir Flächen besser voneinander trennen und schärfer sehen. An der Grenzfläche zwischen Schwarz und Weiß wird tatsächlich Schwarz als schwärzer und Weiß als weißer wahrgenommen. Die Mach-Streifen demonstrieren diesen Effekt sehr eindrucksvoll.

Zu dieser Helligkeitskontrastverstärkung führt die seitliche Hemmung der Sehzellen. Die Sinneszellen hemmen sich gegenseitig, und zwar um so stärker je intensiver der Lichteinfall ist. Das Betrachten einer rein weißen Fläche löst demnach eine stärkere Hemmung aus als das Betrachten einer schwarz-weißen Kante. Das Hermann’sche Gitter nutzt diesen Effekt: An den Kreuzungspunkten kann die Randkontrastverstärkung nicht in dem selben Maße stattfinden wie in den dazwischenliegenden Streifen, weil dort weniger Schwarz vorhanden ist. Die seitliche Hemmung ist demnach stärker und das Weiß erscheint dort dunkler.

Unsere auf Kantenerkennung getrimmte Wahrnehmung lässt uns sogar Figuren erkennen, wo gar keine sind. Die „gedachten“ Kontouren solcher amodaler Figuren werden automatisch ergänzt. Das Kanisza-Dreieck sehen wir nur durch Aussparungen und Unterbrechungen in Formen, die scheinbar hinter dem weißen Dreieck liegen. Da die Figur vor den anderen Elementen liegt, erscheint ihre Fläche heller. Denn unsere Erfahrung lehrt uns, dass Objekte in der Nähe kontrastreicher und heller sind als weiter entfernte.

Autorin: Daniela Baum

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Illusion und Wirklichkeit
Die visuelle Wahrnehmung des Menschen auf Irrwegen

Sehen und wahrnehmen
Wie die visuelle Wahrnehmung funktioniert

X für ein U? - das Gehirn wird ausgetrickst
Geometrisch-optische Täuschungen

Von Scheinriesen und Zwergen
Die Größenkonstanz

Von gedachten Figuren und weißerem Weiß
Formen und Helligkeit

Ich sehe was, was du nicht siehst
Ambivalente Bilder

Die Sinneszellen sind übersättigt
Nachbilder

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