Die Baumscheiben alter Bäume sind für Dendrochronologen nicht nur deshalb so kostbar, weil sich damit möglicherweise Standardchronologien für die Datierung aufbauen lassen. Auch das Leben eines einzelnen Baumes kann spannend sein wie ein Krimi. Die Begutachtung der Baumringe wird dann zu einem Blick ins Tagebuch eines Baumes, der als zuverlässiger Chronist Alltag und Ausnahmeereignisse seiner Umgebung widerspiegelt.
Flüsse wie der Rhein, die Donau, die Elbe oder der Lech decken jedes Jahr zur Schneeschmelze Dutzende von Baumtagebüchern auf. Nachdem die Wassermassen aus den Bergen herabgestürzt sind, liegen ganze „Bibliotheken“ auf dem Geröll im Oberlauf der Flüsse verstreut. Darunter sind alte, sehr seltene Exemplare – eine Kiefer, die seit 3.000 Jahren im Schotterbett verschüttet war und nun freigespült wurde. Und man findet Massenware im Taschenbuchformat – junge Fichten, Erlen oder Birken, die heute das Flussufer besiedeln und dem Wasser gerade erst zum Opfer fielen. Die angespülten Baumstämme erzählen Geschichten, die nur wenige Jahre alt sind oder sich schon vor Jahrtausenden ereigneten.
Einige Beispiele:
Eine entwurzelte Fichte kündet davon, dass sie bis zu diesem Jahr dem ansteigenden Schmelzwasser stets widerstanden hat. Von einem der Hochwasser trug sie sogar eine Wunde davon. An einer Stelle ist das Wasser damals durch die Rinde bis tief in den Stamm gedrungen, hat das Holz aufgeweicht, so dass Pilze und Bakterien eindringen konnten. Die Fichte hat die Wunde damals mit Harz verschlossen. Und obwohl an der aufgeweichten Stelle kein Holz mehr wachsen konnte, weil das Kambium zerstört wurde, schob sich im Laufe der Jahre neues Holz von beiden Seiten darüber. So entging der Baum noch einmal dem Tode.
Eine Zwergbirke ist in den Fluss gespült worden. Ihre Jahresringe liegen sehr eng beieinander und sind kaum zu unterscheiden. Sie muss in sehr großer Höhe, vielleicht sogar in der Nähe eines Gletschers gestanden haben. Sie war so großer Kälte ausgesetzt, dass sie selbst im Sommer kaum wachsen konnte. Dennoch ist deutlich, dass auf einer Seite des Stammes die Jahresringe ein klein wenig weiter sind – ein Indiz dafür, dass die Birke einen teilweise geschützten Standort hatte und vielleicht an einer Felswand wuchs.
Ein anderer, mächtiger Baum, eine Lärche, hat das Mal einer Lawine vorzuweisen, der sie vor einigen Jahren standgehalten hat. Wo die riesigen Schneemassen auf den Baum geprallt sind, ist der Stamm gespalten. Die Lärche hat an dieser Stelle kein Holz mehr gebildet, aber die Wunde mit einem Wall aus Holz, der von beiden Seiten über den Spalt wucherte, geschützt und den eigenen Stamm so wieder stabilisiert.
Als „wahrer Kämpfer“ entpuppt sich eine Kiefer, sie hat eine ganze Reihe von Feuerwunden aufzuweisen. Immer wieder wurde der Baum von Bränden heimgesucht und hatte alle überlebt. Auch die Kiefer hat ihre Brandmale mit Holz „überwallt“, um die Verletzungen zu schließen. Doch über 20 Brände schwächen selbst den stärksten Baum. Letztendlich ist die Kiefer einem Sturm zum Opfer gefallen und einfach umgeknickt.
Die meisten Bäume, die sich im Frühjahr auf den Schotterfeldern der Gebirgsflüsse sammeln, dokumentieren die jüngere Geschichte von Pflanzen und Klima aus dem Einzugsgebiet des Flusses. Einmal angespült, verrottet das Holz oft innerhalb weniger Jahre. Doch schon seit Jahrtausenden wird ein Teil des Treibholzes allmählich vom Geröll und Sand zugeschüttet. Und manchmal kommt das alte Holz durch Hochwasser oder Schlammlawinen viel später wieder an die Oberfläche. Für Dendrochronologen sind die Schotterbänke deshalb wahre Fundgruben. Denn zusammengenommen lässt sich aus den einzelnen Bäumen und Baumresten aus unterschiedlichen Epochen ein umfassendes Bild über die ökologische Entwicklung im Einzugsgebiet des Flusses nachzeichnen.
Stand: 05.11.2004