Wir schreiben das Jahr 390 nach Christus. Hypatia, mittlerweile aus Europa zurückgekehrt, arbeitet und forscht inzwischen gemeinsam mit ihrem Vater. Theon schreibt an einem „Kommentar“, einer Neuausgabe von Euklids „Elementen“, einem der Meilensteine der modernen Mathematik und Naturwissenschaft. In ihm hat der 280 vor Christus gestorbene Mathematiker nicht nur das Wissen über Arithmetik und Geometrie seiner Zeit zusammengefasst, er nutzt auch erstmals das Prinzip von Hypothesen, Beweisen und Definitionen.
Hypatias Mathematik: Euklid, Gleichungen und Kegelschnitte
Theon und Hypatia überarbeiten den Text und stellen ihn neu zusammen. Vor Erfindung des Buchdrucks ist dies einzige Möglichkeit, wissenschaftliche Schriften weiterzugeben. Die meisten Werke antiker Mathematiker sind nur dank dieser „Kommentare“ überhaupt erhalten. Hypatia schreibt vermutlich Kommentare zu den 13 Bänden der „Arithmetik“ des Diaphantus, einem Lehrwerk, in dem es unter anderem um Lösungswege für Gleichungen geht und das bis heute als eines der bedeutendsten der Antike gilt.
Außerdem soll Hypatia auch einen Kommentar zur Abhandlung „Konica“ über Kegelschnitte des Apollonius von Perga verfasst haben, sowie einen astronomischen Kanon, der entweder auf ein Werk des Ptolemäus zurück geht oder aber eine Zusammenstellung astronomischer Tabellen ist. Ihre Werke sind heute größtenteils nicht mehr erhalten oder nicht eindeutig zuzuordnen. Informationen über ihre Schriften beruhen daher vor allem auf Zeugnissen von Zeitgenossen.
{2r}
Was steht im Zentrum des Kosmos?
Klar scheint aber, dass Hypatia sich schon sehr früh mit den elementaren Fragen des Sonnensystems und der Bewegung der Planeten beschäftigt. „Als Hypatia lebte, blickte man bereits auf die Früchte jahrelanger wissenschaftlicher Arbeit zurück. Die Bewegung der Planeten war von Ptolemäus und Hipparchos dokumentiert worden, und es gab präzise Instrumente, die die Überprüfung ihrer Theorien erlaubten. Zum ersten Mal kamen diese beiden Faktoren zusammen“, erklärt Antonio Mampaso, Astronom am Observatorium der Kanaren in Teide und wissenschaftlicher Berater des Films „Agora“.
Der griechische Astronom Aristarch von Samos war im 3. vorchristlichen Jahrhundert vermutlich der erste, der nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum des Universums sah. Sein Zeitgenosse Archimedes schreibt über ihn: „Seine Hypothesen sind, dass die Fixsterne und die Sonne unbeweglich sind, dass die Erde sich um die Sonne auf der Umfangslinie eines Kreises bewegt, wobei sich die Sonne in der Mitte dieser Umlaufbahn befindet […].“
Astrolabium und Heliozentrik
Doch zur Zeit Hypatias ist diese Vorstellung über den Aufbau des Kosmos bereits wieder vergessen, es dominiert die Sicht des Ptolemäus, nach dem sich alles um die Erde dreht. Dieses geozentrische Weltbild kommt dem sich ausbreitenden Christentum natürlich sehr entgegen: Was sonst sollte Gott ins Zentrum gestellt haben, wenn nicht den Wohnort seiner Krone der Schöpfung?
Doch Hypatia gibt sich damit nicht zufrieden. Sie studiert die Planetenbewegungen mit Hilfe eines neuen astronomischen Instruments, das sie möglicherweise sogar miterfunden hat, dem Astrolabium. Erst mit ihm wird es möglich, genaue Winkelmessungen am Himmel durchzuführen und damit die Positionen von Sternen und Planeten präziser als bisher zu bestimmen. Und die Gelehrte kommt damit zu Ergebnissen, die sich einfach nicht mit dem gängigen geozentrischen Weltbild erklären lassen. Lange vor Kopernikus und Galileo steht für sie daher bald fest: Nicht die Erde liegt im Zentrum der Planetenbahnen, sondern die Sonne.
„Diese Entdeckung brachte nicht nur die Astronomie voran, sie war in ihren gesellschaftlichen Aspekten revolutionär, weil kosmologische und wissenschaftliche Theorien fest verwurzelt waren und die soziale und religiöse Ordnung der Gesellschaft stark beeinflussten“, erklärt Mampaso. Doch bis sich dieses Weltbild durchsetzte, sollte es noch mehr als 1.200 Jahre dauern.
Nadja Podbregar
Stand: 11.03.2010