Man nehme: Zwillinge und ein Raumschiff, das fast so schnell ist wie das Licht. Einer der beiden reist in seinem Raumschiff mit rasender Geschwindigkeit durch die Galaxis, der andere bleibt zu Hause. Als der Weltraumreisende nach langer Zeit zurückkehrt, stellt er erstaunt fest, dass sein Zwillingsbruder auf der Erde nun um Jahre älter ist als er.
Analogie für reale Phänomene
Natürlich geht es hier nicht um ein reales Geschehen. „Das sogenannte Zwillingsparadoxon“, erklärt Bert Heinrichs vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM) des Forschungszentrums Jülich, „ist ein Gedankenexperiment.“ Erdacht wurde es vor gut 100 Jahren von Albert Einstein, der damit auf anschauliche Weise die – durchaus realen – Konsequenzen seiner Relativitätstheorie aufzeigte. Sie besagt, dass die Zeit durch Beschleunigungen und die Gravitation gedehnt werden kann, eine Vorhersage, die sich aus der Absolutheit der Lichtgeschwindigkeit ergibt.
Die im Zwillingsparadoxon beschriebene Dehnung der Zeit wurde seither immer wieder experimentell bewiesen – zuerst durch Zeitmessung an Bord eines Flugzeugs. Inzwischen können hochgenaue Atomuhren diese Effekte bis auf winzige Sekundenbruchteile messen. Weil auch die Atomuhren an Bord der GPS-Satelliten der Zeitdilatation unterliegen, würde die Satellitennavigation ohne Berücksichtigung dieses Prinzips nicht funktionieren.
Denkhilfe schon seit der Antike
Mit Gedankenexperimenten beschäftigt Bert Heinrichs sich ständig. Er ist Philosoph, einer von insgesamt sieben, die im Bereich „Ethik in den Neurowissenschaften“ ethischen Fragestellungen in den Naturwissenschaften nachgehen. „Gedankenexperimente sind ein Werkzeug der Fantasie, das einem dabei hilft, die Natur von Dingen aus neuen Blickwinkeln zu betrachten“, sagt er.
„Sie werden meist durchgeführt, weil ein tatsächliches Experiment nicht möglich ist, sei es aus physikalischen, technologischen, finanziellen oder ethischen Gründen. Manchmal illustrieren Gedankenexperimente sehr abstrakte Konzepte und tragen damit zum Prozess des Verstehens bei“, erläutert Heinrichs. „Es gibt sie schon seit der Antike, in allen Bereichen: in der Philosophie, aber auch in der Ökonomie, Geschichte, Mathematik und in den Naturwissenschaften – besonders in der Physik.“
Achilles und die Schildkröte
Eines der bekanntesten Gedankenexperimente der Antike stammt von dem altgriechischen Philosophen Zenon von Elea, der es im fünften Jahrhundert vor Christus beschrieb. Es hat seither Generationen von Denkern Kopfzerbrechen bereitet. Die Geschichte geht so: Achilles, schnellster Läufer der Antike, wird von einer Schildkröte zu einem Wettrennen herausgefordert. Seines Sieges sicher, gewährt er der Schildkröte einen Vorsprung. Das Rennen startet, beide laufen los.
Doch als Achilles den Startpunkt der Schildkröte erreicht, hat diese bereits ein weiteres Wegstück zurückgelegt. Achilles muss also dieses Stück überwinden, bevor er die Schildkröte überholen kann. Doch ist ihm das gelungen, hat die Schildkröte wiederum einen – kleineren – Vorsprung gewonnen. Der Vorsprung der Schildkröte wird damit immer kleiner, bleibt aber immer ein Vorsprung. Achilles kann damit die Schildkröte niemals einholen und damit auch nie überholen.
Offensichtlich würde jeder Hobbyläufer die Schildkröte mit Leichtigkeit überholen – doch die logische Argumentation von Zenon ist nicht so leicht zu erschüttern. Wo steckt der Fehler?