Die Frage lautet: Was ist aus altorientalistischer Sicht richtig und falsch in den Bauinschriften altmesopotamischer Könige des 1. Jahrtausends v. Chr.? Und welche Rolle spielte diese Bewertung für die Auftraggeber und Verfasser dieser Bauberichte?
Bezug auf Vorgänger war üblich
Verweise auf ältere Vorgängerbauten, ältere Bauherren und das Auffinden alter Bauurkunden sind seit dem frühen 2. Jahrtausend v. Chr. häufiger Bestandteil in Bauinschriften der assyrischen Herrscher. In seinem Baubericht zum Neubau des Ischtar-Tempels in der Hauptstadt Assur nennt der mittelassyrische König Salmanassar I. (1273–1244 v. Chr.) beispielsweise vier ältere Bauherren: Der jüngste ist sein Vater, Adad-nerari I., und der älteste Iluschuma, ein altassyrischer Herrscher des 20. Jahrhunderts v. Chr.
Diese Angaben lassen sich durch jeweils zeitgenössische Quellen bestätigen. Sie sind also im Sinne historischer Faktizität richtig. Tatsächlich gibt es nur wenige assyrische Bauinschriften, in denen nachweislich falsche Angaben gemacht werden. Im Folgenden werden wir zwei dieser Inschriften betrachten und die jeweilige Intention erläutern.
Eine als Wiederaufbau getarnte Neugründung
In seinem Neubau des außerhalb der Stadt gelegenen Festhauses in Assur ließ der neuassyrische König Sanherib (704–681 v. Chr.) in der zugehörigen Bauinschrift dokumentieren, dass dieses Festhaus schon vor langer Zeit gebaut worden, dann aber in Vergessenheit geraten sei. Er ließ es erneuern, um darin die rituellen Handlungen für das wichtigste Fest des jährlichen Festzyklus, das Neujahrsfest, durchführen zu können.
Doch Ausgrabungen im Bereich des Festhauses Sanheribs widerlegen die Angaben von König Sanherib: Bei seinem Bauwerk handelt es sich offensichtlich um eine Neugründung. Auch ältere Bauinschriften für das Festhaus sind nicht bekannt. Dieses Gebäude stellt demzufolge eine unter Sanherib veranlasste Neuerung dar – und nicht wie von dem König behauptet ein bloßer Wiederaufbau. Aber warum machte Sanherib in seinem Baubericht falsche Angaben dazu?
Die Notwendigkeit dafür ergab sich aus den unter diesem König eingeführten religiösen Reformen, in deren Zentrum die Erhöhung des Reichsgottes Assur zum Protagonisten im Weltschöpfungsmythos Enūma eliš stand. Damit verbunden wurde auch das zuvor in Babylon veranstaltete Neujahrsfest nach Assur verlegt. Dies machte bestimmte bauliche Veränderungen und Ergänzungen in Assur erforderlich, zu denen auch der Neubau des Festhauses gehörte.
Ein neuer Tempel für Nabu
Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel bietet die Bauinschrift des letzten assyrischen Königs Sin-schara-ischkun (627–612 v. Chr.) für den Nabu-Tempel in Assur. Der Inschrift zufolge soll das Heiligtum für den Gott Nabu vor langer Zeit errichtet und von namentlich genannten Vorgängern renoviert worden sein. Es verfiel dann aber wegen Vernachlässigung und wurde erst von Sin-schara-ischkun wieder in seinen alten Zustand versetzt, und zwar dem alten Grundriss entsprechend – so jedenfalls berichtet es die assyrische Inschrift.
Doch auch in diesem Fall halten die Angaben zur Baugeschichte einer Überprüfung im archäologischen Befund und anhand der Inschriften älterer Herrscher nicht stand. Einen Kult für den Gott Nabu hatte es zwar zuvor in Assur gegeben, aber Nabu wohnte bis dahin nicht in einem eigenen Tempel. Der Neubau unter Sin-schara-ischkun ist also ebenfalls eine Neugründung, die gebotene Baugeschichte eine Fiktion und damit faktisch falsch.
Das Bedürfnis der Neugründung lässt sich in diesem Fall mit der herausragenden Bedeutung des ursprünglich babylonischen Gottes Nabu erklären, die diesem seit dem 8. Jahrhundert in Assyrien zugesprochen wurde. Dieser Kult schlug sich im Bau von Nabu-Tempeln in den großen assyrischen Residenzstädten nieder. Nur in Assur besaß Nabu noch am Ende des 7. Jahrhunderts kein eigenes Heiligtum. Dies wurde offenbar als Mangel wahrgenommen, der mit dem Neubau unter Sin-schara-ischkun beseitigt werden sollte.