Sie sind überall und doch spüren wir sie nicht: In jeder Minute treffen rund 10.000 Myonen jeden Quadratmeter der Erdoberfläche – einschließlich unserer Körper. „Sie fliegen mit fast Lichtgeschwindigkeit durch uns hindurch und können hunderte Meter Gestein durchdringen“, erklärt Ian Swainson von der Internationalen Atomenergieorganisation IAEA. „Trotzdem sind sie für uns Menschen harmlos.“
Kurzlebige Schwergewichte
Doch anders als die fast masselosen Neutrinos, die ebenfalls ständig aus dem All auf die Erde treffen und durch uns hindurchrasen, sind die Myonen ziemliche Schwergewichte: Sie wiegen gut 200-mal mehr als ein Elektron und sind damit auch deutlich energiereicher als Neutrinos oder Elektronen. Dennoch gehören die Myonen zur gleichen „Familie“ der Elementarteilchen wie die Elektronen: Sie tragen ebenfalls eine negative Elementarladung, haben den gleichen Spin und sind, wie die Elektronen, nicht weiter zerteilbar.
Damit ist das Myon eine Art „schwerer Bruder“ des Elektrons. Es gehört wie dieses zu den Grundbausteinen unseres Universums und zu den Teilchen, die unser Standardmodell der Physik prägen. Allerdings es gibt noch einen wichtigen Unterschied: Während das Elektron fester Bestandteil unserer Atome und damit aller Materie ist, sind Myonen kurzlebige Einzelgänger. Dass sie ständig auf uns hinabregnen und nahezu überall präsent sind, verdanken diese Teilchen der Tatsache, dass sie immer wieder nachproduziert werden.
Das Lebensdauer-Paradox
Aber woher kommen die Myonen? Die meisten von ihnen entstehen, wenn kosmische Strahlung und energiereiche Protonen aus dem All auf unsere Erdatmosphäre treffen. Wenn diese Partikel mit den Sauerstoff- und Stickstoffatomen kollidieren, entsteht eine ganze Kaskade energiereicher, sekundärer Teilchen, darunter auch Myonen. Diese haben allerdings nur eine Lebensdauer von rund 2,2 Mikrosekunden – kaum erzeugt, zerfallen sie schon wieder in ein Elektron und zwei verschiedene Neutrinos.
Das Merkwürdige jedoch: Obwohl die Myonen nur so kurz bestehen bleiben, schaffen sie es in dieser Zeit, von der Atmosphäre in rund 15 Kilometer Höhe bis auf die Erdoberfläche und weit darunter. Aber wie? „Der newtonschen Physik zufolge brauchen Myonen selbst bei knapp Lichtgeschwindigkeit rund 50 Mikrosekunden bis auf Meereshöhe – und damit rund 25-mal länger als ihre Lebensdauer“, erklärt Efrain Covarrubias von der California State University. Trotzdem sind Myonen in großer Zahl und überall auf der Erdoberfläche nachweisbar.
Einstein liefert die Antwort
Wie ist das zu erklären? Die Antwort auf dieses Paradox liefert Albert Einstein – genauer gesagt seine spezielle Relativitätstheorie. Diese besagt, dass für Objekte mit hoher Geschwindigkeit die Zeit langsamer vergeht und Distanzen sich verkürzen. Dieser Effekt wirkt auch auf das Myon: „Für ein Myon, das mit 99,5-prozentiger Lichtgeschwindigkeit durch die Atmosphäre rast, werden die 2,2 Mikrosekunden Lebensdauer dadurch zu rund 16 Mikrosekunden in unserem Bezugssystem“, erklärt Covarrubias.
Diese Zeitdehnung ermöglicht dem Myon das scheinbar Unmögliche: Es kommt auf der Erdoberfläche an, ohne vorher zu zerfallen. Dass diese Teilchen fortwährend auf uns herunterregnen, entdeckten Wissenschaftler schon in den 1930er Jahren. Im Jahr 1941 spielten Myonen dann sogar eine entscheidende Rolle für den Beweis der Einstein’schen Zeitdilatation: Die US-Physiker Bruno Rossi und David Hall führten Messungen am 3.240 Meter hoch gelegenen Echo Lake in Colorado und im 1.524 Meter tiefer liegenden Denver durch. Dabei maßen sie Impuls und Menge der Teilchen und stellten fest, dass deren Lebensdauer stieg, je energiereicher und schneller sie waren.
Spuren in der Nebelkammer
Nachweisen ließen sich Myonen damals in speziellen, mit Wasserdampf gesättigten Nebelkammern. In diesen hinterließen die Myonen – abgelenkt vom magnetischen Feld dieser Kammern, leicht gekrümmte Spuren auskondensierter Tröpfchen. Aus der Krümmungsrichtung schlossen Physiker schon damals, dass diese Teilchen negativ geladen sein mussten – wie das Elektron. Doch anders als bei diesem waren die Spuren der Myonen weniger stark gebogen – was auf ein schwereres, energiereicheres Teilchen hindeutete. Aber was für eins?
Zunächst blieben Herkunft und Art dieser rätselhaften Partikel unklar. 1936 wiesen Physiker dann nach, dass es sich um ein von der kosmischen Strahlung erzeugtes Teilchen handeln musste. Weil dessen Masse irgendwo zwischen der des Elektrons und der des Protons lag, tauften sie es zunächst Mesotron, später „Yukon“ nach dem japanischen Physiker Hideki Yukawa, der ein Elementarteilchen in diesem Massenbereich vorhergesagt hatte. Erst 1946 erkannte man, dass es sich um ein anderes, ganz eigenes Teilchen handelte und gab ihm den Namen Myon.