Welche seiner Aufgaben das biologische Gewebe bestmöglich erfüllt und welche sozusagen nur nebenbei bewältigt werden, wissen die Forscher des Golmer Max-Planck-Instituts erst einmal nicht. Um das herauszufinden, studieren die Wissenschaftler Pflanzenteile, Zellen oder Knochen unter Bedingungen, wie sie in der Natur herrschen. „Wir versuchen, den wesentlichen Kern einzelner Funktionen des Gewebes herauszuschälen“, sagt Peter Fratzl. Diese Funktionsprinzipien können Ingenieure dann so abwandeln, dass die technische Lösung ihren Zweck bestmöglich erfüllt.
Ein Schwamm aus Hemizellulose
Dem Funktionsprinzip der Holzmuskeln sind die Wissenschaftler nun auf die Spur gekommen. Die Hülle der röhrenförmigen Holzzellen kann wie ein Schwamm Wasser aufsaugen. Möglich macht dies ein poröses Knäuel aus Hemizellulose, einem Makromolekül, ähnlich der Zellulose. Durch den Schwamm aus Hemizellulose ziehen sich Fasern aus Zellulose wie die Tragkabel einer Hängebrücke. Die Fäden sind hunderttausendmal dünner sind als ein menschliches Haar, aber extrem steif, tragen also große Lasten ohne sich zu dehnen. Sie sind etwa hundertmal steifer als der sie umgebende Schwamm, mit dem sie fest verbunden sind.
Wenn der Schwamm aus Hemizellulose Wasser einsaugt, quillt er. Die Zellulosefäden nehmen hingegen kein Wasser auf. Die Orientierung der Zellulosefasern entscheidet nun, ob sich die Holzzelle streckt oder zusammenzieht. Da sich die feuchten Zellulosefasern nicht dehnen, kann sich die Holzzelle nur senkrecht zu ihr ausdehnen. Liegen die Fasern also quer zum Ast, dehnen sich die Holzzellen in Längsrichtung des Astes aus.
Wasser als Doping für Holzmuskeln
Wenn die Fasern hingegen fast parallel zum Ast laufen, geschieht etwas anderes: „Obwohl die Zelle insgesamt aufquillt, zieht sie sich in der Richtung des Astes zusammen“, sagt Ingo Burgert, einer der Wissenschaftler in Fratzls Abteilung. Die feuchten Zellulosefasern verdrillen sich nämlich und werden kürzer. Zellen mit solchen Fäden können also am Ast ziehen. „Nimmt die Last zu, die ein Ast tragen muss, bilden sich an seiner Oberseite ziehende Zellen und an seiner Unterseite drückende Zellen“, erklärt Burgert.
Der lebende Baum versorgt die Zellen immer mit ausreichend Wasser, damit sie ihre Zug- oder Druckkraft aufrechterhalten können. Tote Äste hingegen saugen Feuchtigkeit aus der Luft. Diese Tatsache nutzen Menschen seit jeher für die Wettervorhersage: Dazu nageln sie einen fingerdicken Zweig auf ein Brett. Ein paar Zentimeter über sein Ende schnitzen sie das Wort Regen in das Brett, knapp darunter das Wort Sonne. Kündigt eine steigende Luftfeuchtigkeit Regen an, saugen sich die Zellwände der Holzzellen mit Wasser voll.
Die Zellen an der Unterseite des Ästchens dehnen sich dann, während sich jene an seiner Oberseite weiter zusammenziehen. Der Zweig biegt sich mehrere Zentimeter nach oben. Und das, obwohl sich jede einzelne der Milliarden Holzzellen nur um wenige tausendstel Millimeter verlängert oder verkürzt. Die Golmer Forscher haben diese winzige Änderung mit einer hochauflösenden Videokamera verfolgt. Jetzt wollen die Wissenschaftler die Zellen noch genauer erforschen.
Eine Streckbank für Zellen
„Wir wollen wissen, wie sich die Zellulosefasern verändern, wenn wir die Holzzellen dehnen“, sagt Burgert. „Die Bausteine, aus denen die Natur ihre Gewebe zusammensetzt, sind einzelne Moleküle. Uns interessiert der Zusammenhang zwischen mechanischen Eigenschaften wie Elastizität oder Biegefestigkeit und dem molekularen Aufbau des Gewebes.“
Um das herauszufinden, haben die Wissenschaftler eine Art Streckbank gebaut, in die sie einzelne Zellen spannen können. Während sie die Holzzellen darin dehnen, bestrahlen die Forscher sie zudem mit Laserlicht. Das gestreute Licht verrät ihnen, wie sich die Molekülketten unter der Belastung verändern. Mit einem Ultraschallmessgerät messen sie zudem die Steifigkeit von Pflanzenteilen. Und die Orientierung der Zellulosefasern bestimmen sie mithilfe der Röntgenbeugung.
Stand: 07.12.2007