Phänomene

Wechselgeld schmeckt nach Käse

Wenn die Sinne überlappen

Der Brite James Wannerton hasst den Namen „Derek”, denn er schmeckt nach Ohrenschmalz. Er selbst lebt in einem Ort mit Fruchtgummigeschmack und seine Nachbarn sind für ihn eine Mischung aus Joghurt und Jelly Beans. Nein, Wannerton ist weder eine Comicfigur noch auf einem Drogentrip. Er ist Synästhet. Der Systemanalytiker aus der Stadt Blackpool ist einer der Menschen, die ihre Umwelt nicht fein säuberlich nach Sinnen getrennt wahrnehmen. Stattdessen ruft ein Reiz, beispielsweise ein gehörtes Wort, ein Klang oder der Anblick einer Zahl, neben der „normalen“ kognitiven Verarbeitung auch eine weitere, zusätzliche Sinnesreaktion hervor.

Das Wort Wechselgeld, englisch "change", erweckt bei Wannerton den Geschmack von Schmelzkäse © gemeinfrei

Wannerton beispielsweise spürt beim Lesen oder Hören von Worten unwillkürlich einen Geschmackseindruck. Es ist immer der gleiche für bestimmte Wörter, und er kann ihm nicht entgehen. Jede Unterhaltung bombardiert ihn quasi mit Geschmackserlebnissen – und längst nicht alle sind angenehm: „Ich sehe einen Kunden und wenn ich seinen Namen kenne, bekomme ich sofort den Geschmack seines Namens. Es gibt jemanden, der häufiger herkommt, der schmeckt nach nassen Windeln“, beschreibt Wannerton in einem Radio-Interview der BBC. „Und wenn ich Wechselgeld herausgeben muss, dann schmeckt das unveränderlich nach Schmelzkäse.“

Fünf ist grün und Neu ist rot

Mit seiner Wort-Geschmacks-Verknüpfung gehört Wannerton zwar auch unter den Synästheten zu einer Minderheit, nur knapp drei Prozent von ihnen besitzen diese spezielle Überlappung der Sinne, so zeigen Studien. Weitaus häufiger ist dagegen die Verknüpfung von Buchstaben, Zahlen oder Worten mit Farben, wie beispielsweise bei Sabriye Tenberken: „So lange ich zurückdenken kann, haben Zahlen und Wörter sofort Farben in mir ausgelöst“, beschreibt die mit neun Jahren erblindete Tibetologin ihre Synästhesie. „Die Zahl vier beispielsweise ist golden. Fünf ist grün. Neun ist zinnoberrot.“

Wochentage sind für die Synästhetin Kelley farbig und stehen in bestimmter Anordnung im Raum © Kelley / CC-by-sa 2.0 us

Etwa 20 Prozent der Synästheten sehen auch Wochentage oder andere Zeiteinheiten farbig, wie beispielsweise die australische Schauspielerin Stephanie Carswell: „Montag ist gelb, Dienstag ist ein dunkleres Grün aber noch immer recht leuchtend. Freitag hat mich immer verwirrt, er ist entweder dunkellila, blau oder grau. Samstag dagegen ist immer weiß und Sonntag hat eine Art Pfirsichfarbe.“

Für den Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman wiederum sind es mathematische Funktionen, die eine synästhetische Wahrnehmung auslösen: „Wenn ich Gleichungen sehe, sehe ich die Buchstaben in Farben – ich weiß auch nicht warum”, erklärt der Physiker in seinem Buch „What Do You Care What Other People Think?“ „Während ich jetzt rede, sehe ich vage Bilder von Bessel-Funktionen aus Jahnke und Emdes Buch [„Tafeln höherer Funktionen“], mit hellbraunen ‚j’, leicht violett-bläulichen ‚n’ und dunkelbraunen ‚x’ herumfliegen. Und ich frage mich, wie zum Teufel das für die Studenten aussehen muss.“

Die Zuordnung einer Farbe zu einer Zahl oder einem Buchstaben sind individuell unterschiedlich, aber unveränderlich. Hier die Farbzahlenreihen von zwei Synästheten im Vergleich. © Kelley / CC-by-sa 2.0; gemeinfrei

Unwillkürlich und unveränderlich

Doch egal, welche Wahrnehmungsformen bei einem Synästheten beteiligt sind, ob es eine Verbindung von nur zwei Sinnen ist oder sogar von mehreren – allen sind bestimmte Merkmale gemeinsam: Ihre Empfindungen sind unwillkürlich und nicht von ihnen steuerbar. Sie können sie weder aktiv unterdrücken noch bewirken. Und diese Eindrücke sind unveränderlich: Wenn das „A“ einmal rot war, wird es das für diese Person immer bleiben. Für einen anderen Synästheten kann allerdings das „A“ genauso gut grün sein – aber auch für ihn wird es dann diese Farbe immer behalten.

Diese inneren „Regeln“ sind ebenso wenig vom Betroffenen beeinflussbar wie die Frage, ob er seine Umwelt in Farbe oder schwarz-weiß wahrnimmt: „Es ist mir genauso unmöglich, die Farbe des Buchstabens O zu ändern wie seine runde Form: Für mich ist das eine genauso sehr das Attribut dieses Buchstabens wie das andere“, erklärt Pat Duffy auf den Seiten der britischen Synaesthesia Association. Ein interaktiver Test auf Zeichen- bzw. Wort-Farben-Synästhesie findet sich auf der Website der BBC.

Und genau diese Gesetzmäßigkeiten machen sich Forscher auch zunutze, wenn sie testen wollen, ob jemand wirklich ein Synästhet ist oder nicht….

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Nadja Podbregar
Stand: 06.05.2011

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Synästhesie
Das Geheimnis der „Farbenhörer“ und „Wörterschmecker“

Wechselgeld schmeckt nach Käse
Wenn die Sinne überlappen

Das Klavier ist königsblau
Im Reich der „Farbenlauscher“

Das Geheimnis des roten Dreiecks
Was passiert bei Synästheten im Gehirn?

Familiensache
Synästhesie und Vererbung

Zufallsfund im Mäusehirn
Ein Schmerz-Gen entpuppt sich als Synästhesie-Auslöser

Tief ist dunkel, hoch ist hell?
Das Rätsel der Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Die vollkommene Wahrnehmung
Synästhetische Verschmelzung als Mode

Zwischen Kuriosität und Irrenhaus
Reaktionen auf die Synästhesie heute

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