Schon in der Schule lernen wir, dass das Geschlechtschromosom darüber entscheidet, ob ein Mädchen oder ein Junge das Licht der Welt erblickt. Doch so selbstverständlich wir von dieser Annahme ausgehen, so unzureichend ist sie bei genauerem Hinsehen: Jeder gesunde Embryo weist zunächst die Anlagen für beide Geschlechter auf.
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Weiblich trotz Y-Chromosom
Erst unter dem Einfluss von Hormonen, die während der Schwangerschaft im Kreislauf des Kindes zirkulieren, entscheidet es sich, welche Geschlechtsorgane weiterentwickelt werden. Das männliche Geschlechtshormon Testosteron bewirkt, dass der Penis wächst und sich Hoden und Samenleiter formen.
Fehlen auf den Zellen jedoch die Rezeptoren, die molekularen „Aufnahmestationen“ für Testosteron, dann passiert auch bei einem Kind mit typisch männlicher Geschlechtschromosomen-Kombination (XY) etwas ganz anderes: Es formen sich Gebärmutter, Eileiter und Vagina, die Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane wird gestoppt. Wenn die Hebamme das Kind nach
der Geburt den Eltern übergibt, wird sie sagen: „Es ist ein Mädchen!“ Und ohne Chromosomentest kommt auch später niemand auf die Idee, dass es sich faktisch um einen Jungen handelt.
Hormone der Mutter wirken mit
Neben Reifungsprozessen im Gehirn des Kindes beeinflusst auch der Hormonhaushalt der Mutter das Geschehen. Wenn Frauen während der Schwangerschaft in kritischen Phasen männliche Hormone einnehmen, führt das zu Anomalien bei der Geschlechtsbildung von weiblichen Föten. Sie weisen eine stark vergrößerte Klitoris und ein insgesamt männlicheres Äußeres auf.
Vorgeburtliche hormonelle Einflüsse werden zudem verdächtigt, sich auf die späteren sexuellen Neigungen auszuwirken. Einer Pilotstudie zufolge werden Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Progesteron eingenommen haben, später überdurchschnittlich oft bisexuell.
Festzuhalten gilt: Hormone im Blut des Kindes – ob sie vom kindlichen Körper selbst produziert werden oder über die Nabelschnur in den Kreislauf des Fötus gelangen – prägen die pränatale Entwicklung der Geschlechtsorgane und scheinen sich darüber hinaus auf die spätere sexuelle Orientierung des Menschen auszuwirken.
Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017