Teotihuacan war eine der mächtigsten und einflussreichsten Kulturen Mittelamerikas. Selbst große Mayastädte wie Tikal mussten sich im Jahr 378 der Übermacht beugen – sie wurden zu Vasallen der „Stadt der Götter“. Doch wer regierte Teotihuacan? Wer traf die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen, die diese Kultur über Jahrhunderte so dominant machte?
Kein Königspalast, keine royalen Figuren
Diese Frage stellten sich bereits die ersten Archäologen, die die Ruinen von Teotihuacan untersuchten – und überrascht wurden. Denn sie fanden in Teotihuacan keinen aus dem Stadtbild hervorstechenden Königspalast. „In anderen mesoamerikanischen Städten – beispielsweise der Maya oder Azteken – haben Archäologen keine Probleme, den Königspalast eindeutig zu identifizieren“, sagt Michael Smith von der Arizona State University. „Anders in Teotihuacan: Hier werden gleich drei verschiedene Gebäudekomplexe als mögliche Paläste diskutiert.“
Einige Forscher halten Teile der sogenannten Ciudadela für den Königspalast, einen ummauerten Gebäudekomplex rund um den Tempel des Quetzalcoatl. Andere halten einen Gebäudekomplex beiderseits der Straße der Toten für die Residenz des Herrschers und auch der sogenannte Xalla-Komplex zwischen Sonnen- und Mondpyramide gilt als Kandidat.
Merkwürdig auch: „Wir haben keinerlei direkte Hinweise auf einen König gefunden. Die zahlreichen Wandmalereien enthalten keine Abbilder royaler Persönlichkeiten und auch ein Königsgrab wurde bisher unter keiner der Pyramiden der Stadt entdeckt“, berichtet Smith. Während die Herrscher der Maya in vielen Reliefs auftauchen, in Hieroglyphen benannt werden und so die Rekonstruktion ganzer Dynastien erlauben, fehlen solche Zeugnisse in Teotihuacan völlig.
Zwischen Autokratie und Proto-Demokratie
Was aber sagt dies über die Gesellschaft und Regierungsform von Teotihuacan aus? Gab es in diesem mächtigen Reich womöglich gar keinen König? Wie bei so vielen offenen Fragen zu Teotihuacan sind sich die Forscher auch hierbei nicht einig. Einige Archäologen, darunter Saburo Sugiyama von der Arizona State University, halten es trotz der noch fehlenden Belege für wahrscheinlich, dass dieses Reich von einem autokratischen Herrscher regiert wurde. Denn nur so sei die strikt durchgeplante Struktur der Stadt und das schiere Ausmaß der für ihren Bau nötigen Arbeiten umsetzbar gewesen.
Andere Wissenschaftler, darunter Sugiyamas Kollege Smith und Linda Manzanilla von der Autonomen Nationaluniversität Mexiko sehen dies anders. Sie vermuten, dass Teotihuacan von einer Gruppe hochrangiger Personen regiert wurde – möglicherweise sogar einem gewählten Gremium. „Die Menschen könnten dort mehr Mitspracherecht bei der Wahl ihrer Herrscher gehabt haben als in anderen Kulturen dieser Zeit“, sagt Smith. Zudem belegen Zivilisationen wie die alten Griechen oder die Harrappa-Kultur am Indus, dass auch Kulturen ohne Könige geordnete Städte, effiziente Verwaltungen und eine höchst erfolgreiche Wirtschaft entwickeln konnten.
Paläste für (fast) alle
Als Indiz für eine Art Oligarchie in Teotihuacan sehen Smith und Manzanilla einige Auffälligkeiten in der Struktur der Stadt und ihren Gebäuden. Dazu gehört neben der Existenz gleich mehrerer besonders luxuriöser Paläste auch der allgemeine Wohlstand, der sich in vielen Wohnhäusern Teotihuacans zeigt. Diese besaßen große Räume mit Wandmalereien, mehrere Innenhöfe und waren offenbar mit reichlich luxuriöser Importware ausgestattet, wie archäologische Funde von Objekten aus der gesamten Region des heutigen Mexiko belegen.
Als Archäologen das erste dieser Wohnhäuser in den 1950er Jahren ausgruben, hielten sie es zunächst für einen Palast. Inzwischen jedoch wurden hunderte weitere dieser Häuser in Teotihuacan gefunden. „Offensichtlich waren diese luxuriösen Quartiere nicht für die Eliten reserviert, sondern dienten tausenden Einwohnern als Wohnung – fast jeder in Teotihuacan lebte in einer Art Palast“, sagt Smith. Aus Basis der Daten und eines Modells hat er ermittelt, dass rund 90 Prozent der Bevölkerung in diesen Wohnblöcken lebte.
Starke Mittelschicht und herrschende Häuser
„Geht man von diesen Daten aus, war der Wohlstand in Teotihuacan bemerkenswert gleichmäßig verteilt“, erklärt der Forscher. Dies spreche dafür, dass es in Teotihuacan eine breite, wohlhabende Mittelschicht gab, die vor allem vom Handel und den in den verschiedenen Stadtvierteln angesiedelten Handwerksbetrieben profitierten. Zusätzlich könnte es in jedem Viertel eine Art Zwischenelite gegeben haben, die jeweils Repräsentanten in das regierende Gremium entsandte. Als Hinweis auf diese „herrschenden Häuser“ sieht Manzanilla wiederkehrende Symbole wie Jaguar, Adler, Federschlange oder Kojote, die möglicherweise eine Art Wappen dieser Parteien darstellten.
Wie bei so vielen Fragen rund um Teotihuacan gibt es auch zur Herrschaftsform weiterhin mehrere konkurrierende Theorien. Ob diese rätselhafte Kultur von autokratischen Königen, von einer Oligarchie der Reichen oder doch von einem gewählte Gremium regiert wurde, bleibt daher vorerst offen.