Individualität ist das, was Menschen ignorieren, wenn vorgefertigte Meinungen zum Einsatz kommen: Mann mit schmutziger Kleidung ist gleich obdachlos ist gleich gefährlich? Oder würde das Geschlecht vielleicht gar keine Rolle spielen, wenn die Situation eine andere wäre? Um herauszufinden, was die Wahrnehmung beeinflusst, nutzt Klauer so genannte unaufdringliche
Verfahren. Seine Probandinnen und Probanden erfahren zunächst nicht, dass sie sich zu einer Studie über Vorurteile angemeldet haben.
Statements als Test
Am Bildschirm sehen sie eine Diskussion, zum Beispiel zwischen Männern und Frauen. Jede Sprecherin und jeder Sprecher tritt mit einem Statement auf: „Die Öffnungszeiten der Universitätsbibliothek kommen mir sehr entgegen.“ „Der Verwaltungsaufwand im Studium ist enorm.“ „Ich bin mit dem Vorlesungsangebot unzufrieden.“ Sollen hier etwa Vorurteile über den universitären Betrieb erforscht werden?
Tatsächlich hat das Gesprächsthema nichts mit dem Experiment zu tun. Klauer nutzt das „Wer-sagt-was“-Paradigma, um zu überprüfen, worauf die Probanden ihre Aufmerksamkeit lenken. Nach der Diskussion präsentiert das Team den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einige der Statements, die sie den jeweiligen Personen zuordnen sollen. Nicht jeder kann mit einem lückenlosen Gedächtnis glänzen – darauf spekuliert Klauer.
Zuordnung macht Kategorisierung sichtbar
Wenn die Probanden eine Aussage falsch zuordnen, wählen sie meistens trotzdem eine Person aus der richtigen Kategorie, in diesem Fall „Mann“ oder „Frau“. Das bedeutet: Bei der Verarbeitung einer Aussage berücksichtigen Menschen offensichtlich das Geschlecht eines Sprechers, auch wenn es bei der Diskussion nicht um Geschlechtsunterschiede, sondern um die Öffnungszeiten der Bibliothek geht.
Das „Wer-sagt-was“-Paradigma verdeutliche auch, wie das Gedächtnis funktioniere, erklärt der
Forscher. Manchmal jubelt sein Team den Probanden Aussagen unter, die nicht im Experiment vorkamen. Eine Erinnerung an diese Statements kann es also nicht geben, trotzdem sollen die Studienteilnehmer sie den Sprechern zuordnen. „Dabei tritt eine andere Funktion von Vorurteilen in Kraft, nämlich das rekonstruktive Füllen von Gedächtnislücken. Wenn Menschen sich nicht an etwas erinnern können, greifen sie auf stereotype Erwartungen zurück. Sie verlassen sich auf allgemeines Wissen über ihre Kultur und Gesellschaft.“
Bei einer Diskussion zum Thema Geschlechterrollen ordneten die Teilnehmer feministischere Aussagen („Ich finde es gut, wenn Frauen nach einer Kinderpause schnell wieder in den Beruf einsteigen“) eher den Frauen und konservativere Ansichten („Verheiratete Männer sollten ihre Hemden nicht selbst bügeln“) tendenziell den Männern zu.
Universität Freiburg, uni’wissen, Rimma Gernenstein
Stand: 19.02.2016