Alles beginnt im Jahr 1997 in Kalifornien: In den Räumen der Scripps Institution of Oceanography in La Jolla sitzen 20 Männer und Frauen zusammen, die zu den führenden Fischkundlern der Welt gehören. Geplant ist eine einstündige Diskussion über den aktuellen Wissensstand in punkto Fischvielfalt in den Meeren. Doch schnell wird klar: so wird das nichts. Trotz jahrzehntelanger Forschung sind ihre gemeinsamen Kenntnisse noch viel zu gering, verraten zu wenig über den wahren Artenreichtum der Ozeane. Und das geht nicht nur ihnen als Fischexperten so, ähnliche Probleme haben nahezu alle, die an Meeresorganismen forschen. Wie sollen sie Veränderungen bemerken und bewerten, wenn sie nicht einmal den Anfangszustand kennen?
Unbekannte Unterwasserwelt
Obwohl die Ozeane zwei Drittel unseres Planeten bedecken und damit mit Abstand den größten Lebensraum stellen, sind nur fünf Prozent davon überhaupt erkundet. Gründlich erforscht sogar noch weniger – zu groß sind die technischen Hürden, Kosten und Risiken. Dunkelheit, hoher Druck, keine Luft zum Atmen erfordern spezielle Ausrüstungen, die schiere Größe dieser Wasserwelt lässt jeden Versuch einer biologischen Kartierung als Sisyphusarbeit erscheinen. Immerhin 1.370 Millionen Kubikkilometer Wasser verteilen sich auf die Weltmeere und reichen durchschnittlich rund 3,8 Kilometer weit in die Tiefe. Kein Wunder also, dass Wissenschaftler davon ausgehen, dass mindestens ein bis zehn Millionen Lebewesen in den Weiten der Ozeane noch auf ihre Entdeckung warten.
Eine „Volkszählung“ muss her
Ausgehend von diesen eher deprimierenden Feststellungen beschließen die 20 Wissenschaftler in La Jolla, einen neuen Anfang zu machen: Statt immer nur bekannte Arten zu studieren, wollen sie nun erst einmal eine „Volkszählung im Meer“ machen – eine umfassende Untersuchung all dessen, was unter der Wasseroberfläche lebt. Ein neues Zeitalter der Entdeckungen könnte damit anbrechen, sie vergleichen es mit den Zeiten von Darwin, Linné und James Cook.
Ein solches Projekt ist aber nur mit enormem Aufwand möglich, ohne Geldgeber und internationale Zusammenarbeit wird es nicht gehen. Glücklicherweise sitzt Jesse H. Ausubel unter ihnen. Er ist Programmdirektor der Alfred P. Sloan Foundation und damit in der Position, dem Plan die nötigen Finanzmittel zu organisieren. Und er ist von der Idee begeistert. „Der Traum zu wissen, was im Meer lebt, ist alt, überwältigend und romantisch“, erklärt Ausubel. „Neu daran sind die Dringlichkeit der Aufgabe, die Fähigkeit, es herauszufinden, und die Tatsache, dass immer mehr von uns sich daran versuchen.“
Der „Census of Marine Life“ beginnt
Drei Jahre dauern die Vorarbeiten, dann ist es soweit. Das auf zehn Jahre angesetzte Projekt „Census of marine Life“ beginnt im Jahr 2000 mit zunächst 60 Wissenschaftler aus 15 Ländern. Ihr Ziel: Nichts weniger als das gesamte Leben in den Weltmeeren von Pol zu Pol und von der Wasseroberfläche bis zum tiefsten Graben zu erfassen.
Neben der allerersten Bestandsliste sämtlicher mariner Lebensformen wollen die Forscher aber auch Karten erarbeiten, aus denen die Verbreitung und Häufigkeit der Arten hervorgeht. Denn nur wenn der genaue Lebensraum eines Tieres bekannt ist – inklusive aller Geburtsstätten, Futterplätze und Wanderungswege -, kann auch geklärt werden, ob und in welchem Maße dieser Organismus möglicherweise gefährdet ist. In 14 Census-Projekten durchmustern Wissenschaftler deshalb das Meer vom Schelf bis in die Tiefsee, von den warmen Lagunen der Tropen bis in die eisigen Wasser des Polarmeeres und erfassen dabei Organismen von der Größe einer Mikrobe bis zum Wal.
Und auch die zeitliche Dimension spielt eine Rolle – die Veränderung der Organismenvielfalt im Laufe der Jahre und Jahrzehnte. Drei Leitfragen begleiten daher die Census-Projekte: Was lebte in den Meeren? Was lebt aktuell in ihnen? Was wird in ihnen leben?
Nadja Podbregar
Stand: 26.02.2010