Jährlich registrieren die Seismologen rund 1.500 Beben der Stärke 5 und höher. Oft verursachen diese nur Schäden auf dem Land, da hebt sich irgendwo die Erde um ein paar Meter, oder eine Landstraße ist plötzlich um eine Fahrbahnbreite seitlich versetzt.
Doch in den gefährdeten Gebieten liegen auch zahlreiche Millionenstädte: Santiago de Chile mit mehr als sechs Millionen Einwohnern, der Großraum Los Angeles mit 18 Millionen Menschen, der Großraum Peking mit 18 Millionen, Istanbul mit 17 Millionen oder Tokio mit 35 Millionen Einwohnern. Die Forscher können die physikalischen Folgen einzelner Beben mittlerweile gut simulieren und Empfehlungen aussprechen, in welchen Zonen man besonders erdbebensicher bauen sollte – und wo besser gar nicht. Die Simulationen liefern nämlich eine Größe, die dafür wichtig ist: die Bodenbeschleunigung. Sie sagt aus, wie heftig der Untergrund bei einem Beben an einem bestimmten Ort in eine bestimmte Richtung katapultiert wird.
3-D-Modell der Erdkruste
Heiner Igel hat mit seinem Team Erdbebenfolgen für ganz unterschiedliche Regionen berechnet, für das Kölner Becken, für Südkalifornien oder das Peking-Becken. Allein für die Metropolregion Los Angeles hat er 400 unterschiedliche Szenarien analysiert, ausgehend von wahrscheinlichen Epizentren auf einer 70 Kilometer langen Verwerfung.
Die entscheidende Frage ist, wie genau sich die gewaltige Energie eines Bebens in der Millionenmetropole auswirken würde. Für ihre Simulation definieren die Erdbebenforscher zunächst ein möglichst exaktes 3-D-Modell der Erdkruste. Dafür verwenden sie eine Art Gitter mit bis zu einer Milliarde Punkten und berechnen, wie sich seismische Wellen dreidimensional ausbreiten würden.
In das Modell fließen örtliche Randbedingungen ein, etwa die Dicke der Erdkruste, die Dichte des Untergrunds und die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Wellen. Je mehr direkte Informationen die Forscher etwa aus Bohrlochmessungen haben, umso besser ist es.
Schwingungsmuster von Erdbebenwellen werden dargestellt
Insgesamt lassen sich mithilfe solcher Modelle die Schwingungsmuster von Erdbebenwellen in der gesamten Region darstellen. Prinzipiell ist ein Beben mit einem Riss in der Windschutzscheibe vergleichbar, der sich schlagartig in Bruchteilen von Sekunden in beide Richtungen ausbreitet. Es ist dabei – wie bei Beben – wichtig, wo der Riss beginnt. Auch die Simulationen zeigen, dass es einen Unterschied macht, ob das Epizentrum in der Mitte oder an einem der Ränder einer Verwerfungslinie liegt.
Wann kommt „The Big One“?
Im Los Angeles-Becken rechnen alle Experten mit einem großen Erdbeben, einem „Big One“. Innerhalb der nächsten 30 Jahre wird es mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,7 Prozent auftreten. Auch deshalb sind diese Simulationen so wertvoll. Sie liefern Anhaltspunkte dafür, welche Belastungen Bauten aushalten müssen, wo Erdrutsche auftreten und wichtige Gasleitungen bersten können.
„Im Ernstfall wäre schnell klar, in welchen Gegenden die größten Schäden auftreten“, sagt Heiner Igel. Mit diesen wichtigen Informationen lassen sich Katastrophen- und Evakuierungspläne erstellen. Bauingenieure können planen, wo sie Häuser und Kraftwerke verstärken und so erdbebensicher machen müssen; Stahlrahmengebäude sind stabiler als Backsteinbauten. Neben den Schäden an Gebäuden müssen Städteplaner und Katastrophenschützer auch die Folgen für die Infrastruktur bedenken.
Totales Chaos – und 200 Milliarden Dollar Schaden
In Los Angeles und Umgebung wären die Schäden für die Wasserversorgung gravierend, möglicherweise müsste das gesamte System nach einem Starkbeben ersetzt werden. Auch die Versorgung von Verletzten wäre schwierig, schließlich sind zwei Drittel aller Krankenhausbetten in den Counties rund um Los Angeles vermutlich nach dem „Big One“ nicht mehr verfügbar. Strom- und Telefonleitungen wären unterbrochen, ebenso die Interstate Highways 10 und 15, vor allem Brücken stellen die Schwachstellen dar. Die Folge wäre das totale Chaos – und ein Schaden von mehr als 200 Milliarden Dollar, wie die US-Erdbebenbehörde USGS schätzt.
Hubert Filser/ „Einsichten – Das Forschungsmagazin“ der Ludwig-Maximilians-Universität München
Stand: 08.12.2011