Sich in andere Menschen hineinversetzen zu können ist eine Fähigkeit, die grundsätzlich in uns steckt. Dennoch beherrschen wir sie nicht von Geburt an: Während Erwachsene in der Regel keine Probleme damit haben, ihre eigenen Gedanken von denen anderer Personen zu unterscheiden, gelingt Kleinkindern dies zunächst noch nicht.
Erst im Alter zwischen drei und vier Jahren beginnen sie plötzlich zu verstehen, dass andere Menschen womöglich etwas Anderes denken als sie selbst. Zuvor scheinen Gedanken für Kinder unabhängig von dem, was sie selbst sehen oder über die Welt wissen, nicht zu existieren – ohne diese Vorstellung ist auch Mitfühlen und Mitleiden mit anderen kaum möglich.
Zuschreibung von Gedanken
Ob ein Kind bereits über diese sogenannte „Theory of Mind“ verfügt, testen Psychologen mit dem „False-Belief-Test“. Er überprüft: Erkennt das Kind, dass andere Menschen Überzeugungen haben können, von denen es selbst weiß, dass sie falsch sind? Zu diesem Zweck wird dem Kind zum Beispiel eine Packung Schokoriegel gezeigt, deren Inhalt mit Stiften ersetzt wurde. Dann wird es gefragt, was wohl ein anderes Kind in der Packung vermuten würde.
Kinder, die die Zuschreibung von Gedanken noch nicht erlernt haben, antworten auf diese Frage: Stifte. Ihnen ist unklar, dass ein anderes Kind nicht wissen kann, dass der Inhalt der Verpackung ausgetauscht wurde.
Faserverbindung als Voraussetzung?
Entscheidend für den Entwicklungsschritt hin zum Erkennen der Gedanken anderer scheint unter anderem die Bildung einer speziellen Faserverbindung im Gehirn zu sein, wie Charlotte Grosse-Wiesmann vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und ihre Kollegen im Jahr 2017 herausgefunden haben.
Dieser sogenannte Bogenstrang (Fasciculus arcuatus) ist Teil einer Art Datenautobahn, die zwei wesentliche Hirnareale miteinander verbindet: eine Region im hinteren Schläfenlappen, die uns hilft, über andere Menschen und deren Gedanken nachzudenken, und einen Bereich im Frontallappen im vorderen Großhirn, durch den wir Dinge auf verschiedenen Abstraktionsebenen halten und somit zwischen den Gedanken anderer und der wirklichen Welt differenzieren können.
Richtig vorausgesagt
Erst wenn diese Strukturen durch den Fasciculus arcuatus miteinander verbunden sind, beginnen Kinder die Gedanken anderer zu verstehen und können richtig voraussagen, was ein anderes Kind in der Schokoladenverpackung vermuten wird, so das Ergebnis der Untersuchung der Wissenschaftler. „Der stark ausgeprägte Fasciculus arcuatus könnte ein Grund dafür sein, dass es uns Menschen grundsätzlich besonders gut gelingt zu verstehen, was andere denken und wie sie vermutlich reagieren werden“, vermutet Grosse-Wiesmann.