Halten wir fest: Pflanzliche Stammzellsysteme werden im frühen Embryo angelegt und kurz nach der Keimung energieabhängig aktiviert. Danach treiben sie die gesamte Entwicklung, also das Ausbilden verschiedenster Organe und Gewebe, voran. Das Sprossmeristem thront dabei gleichsam auf der Spitze des Sprosses, während seitlich ständig neue Strukturen angefügt werden, die das Meristem immer wieder ein Stückchen weiter nach oben schieben.
Woher weiß das Meristem, was zu tun ist?
Im Laufe eines Pflanzenlebens werden so zunächst die Blätter, dann die Stammzellzentren für die Seitentriebe, den Stamm und schließlich die Blüten angelegt und ausgebildet. Wie aber ist es möglich, dass ein und dasselbe Stammzellsystem so viele unterschiedliche Funktionen in exakt definierter zeitlicher und räumlicher Reihenfolge ausführen kann? Woher weiß das Meristem, was zu tun ist?
Auch hier können wir wieder Arbeitsteilung beobachten. Das pflanzliche Entwicklungsprogramm richtet sich maßgeblich nach der Umwelt: Temperatur, Tageslänge, Nährstoffangebot, Schädlingsbefall – all diese Faktoren beeinflussen das Was, Wann und Wo der Entwicklung, entscheiden über Wachstum, Verzweigung oder Abwehrreaktion.
Die Meristeme nehmen diese Reize allerdings aufgrund ihrer kleinen Größe und geschützten Lage nicht selber wahr: Sie empfangen die entsprechenden Signale vom Rest der Pflanze. Nun besitzen Pflanzen aber keine Nerven, die Informationen weiterleiten können – es mussten sich während der Evolution also alternative Wege zur Informationsweiterleitung im pflanzlichen Organismus entwickeln.
Tageslänge als Stimulus für Blütenbildung
Ein gutes Beispiel hierfür ist die Blühinduktion. Für viele Pflanzenarten ist die zunehmende Tageslänge der entscheidende Stimulus, um von der Produktion von Blättern zum Ausbilden von Blüten überzugehen, da dieser Umweltreiz weitaus zuverlässiger die Jahreszeit identifiziert als etwa die Umgebungstemperatur. Vor vielen Jahrzehnten stellte sich schon heraus, dass die Tageslänge in den Blättern gemessen, die Entwicklungsreaktion aber im Stammzellzentrum des Sprosses vollzogen wird.
Dies ließ sich experimentell beweisen, indem man die Blätter von blühenden Pflanzen aus Langtagbedingungen auf Sprosse von Pflanzen unter Kurztagbedingungen transplantierte. Obwohl die transplantierten Blätter nicht direkt mit dem Meristem in Kontakt kamen, waren sie doch in der Lage, das Stammzellzentrum umzuprogrammieren und zur Produktion von Blüten anzuregen. Die Blätter müssen also ein Signal an das Meristem senden, das von ihm verstanden und beantwortet wird. Im Falle dieses Blühsignals – des „Florigens“ – ließ sich kürzlich zeigen, dass es sich um ein kleines Protein handelt, das im Blatt produziert wird und mit dem Pflanzensaft zur Sprossspitze wandert, wo es seine Aktivität entfaltet.
Keine Verzweigungen nahe der Wachstumsspitze
Derart weit reichende Signale dienen nicht nur zur Kommunikation zwischen Blatt und Sprossmeristem. Spezifische Signale des Hauptmeristems etwa unterdrücken die Aktivität der im Laufe der Entwicklung angelegten Seitenmeristeme und verhindern so Verzweigungen nahe der Wachstumsspitze. Entfällt diese Inhibition – beispielsweise, weil die Sprossspitze durch Schnitt entfernt wurde –, werden die ruhenden Seitenmeristeme aktiv, worauf sich eine buschigere Wuchsform ausbildet.
Dank der Modulation der Stärke dieser Signale hatte die Natur im Laufe der Evolution leichtes Spiel, neue Arten hervorzubringen, die sich in ihrem Verzweigungsmuster oder dem Zeitpunkt ihrer Blüte unterscheiden und ihrem jeweiligen Lebensraum optimal angepasst sind.
Unterschiedliche Bauteile, ähnliche Lösungen
Nach allem, was wir heute über das Entwicklungs- und Stammzell-Steuerungsprogramm von Pflanzen und Tieren wissen, hat die Evolution trotz unterschiedlicher Bauteile häufig ähnliche Lösungen hervorgebracht. Die sich stetig verbessernden Methoden der molekularen Entwicklungsbiologie und Genforschung erlauben es uns, immer tiefer in die Geheimnisse der Biologie einzudringen und bis dato unbekannte Mechanismen und Zusammenhänge aufzudecken.
Dieses grundlegende Verständnis ist die Basis für allen Fortschritt in Medizin und Pflanzenzüchtung und unverzichtbar, um globale Herausforderungen in Zeiten des Klimawandels zu bewältigen. Auch wenn der Anblick eines Keimlings bei uns wohl nie die gleiche Reaktion auslösen wird wie der Anblick eines Tierbabys, zeigt sich doch auch und gerade in der Entwicklung der Pflanzen die Komplexität und Schönheit des Lebens.
Jan Lohmann / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 01.12.2011