Nun gibt es nicht nur große Unterschiede zwischen den Büchern, die Kinder lesen, sondern vor allem darin, ob sie überhaupt lesen. Aber wie häufig machen sie das eigentlich und wie lange? Es ist nicht einfach, das herauszubekommen.
In der Schule selbst lesen Kinder kaum, zumindest nicht in der Grundschule. Ein durchschnittliches Lesebuch für den Deutschunterricht in der dritten Klasse hat ungefähr 30.000 Wörter – das ist in etwa der Umfang, den auch ein Band der „Drei ???“-Serie hat. Ein Buch wie Cornelia Funkes „Tintenherz“ (140.000 Wörter) umfasst ungefähr so viele Wörter wie alle Schulbücher der ersten bis zur vierten Klasse zusammen.
Harry Potter und Co
Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die meiste Lektüre in außerschulischen Situationen konsumiert wird – oder eben auch nicht. Darüber hinaus sind die meisten Lese-Episoden nicht in einen erzieherischen Kontext eingebunden, etwa in den Unterricht, sondern finden eher nebenher und selbstgesteuert statt. Fragt man Kinder und Jugendliche danach, wann und was sie in den letzten Tagen außerhalb der Schule gelesen haben, dann erhält man meist einen Mittelwert von ungefähr fünf Minuten pro Tag. Dabei gibt es aber erhebliche Unterschiede: Einige lesen gar nicht und andere dafür eine Stunde.
Ein Forscherteam am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat einen Fragebogen entwickelt, mit dem sich ermitteln lässt, ob Kinder eher Lesemuffel oder Leseratten sind. Dabei wird ihnen eine Liste von Kinderbuchtiteln gezeigt und sie sollen ankreuzen, welche sie bereits kennen. Allerdings wurden unter diese Liste auch eine Reihe von erfundenen Buchtiteln gemischt („Tintenschmerz“, „Harry Potter und die Höhle der Verdammnis“), um zu erkennen, ob die Kinder nur geraten haben. Die Ergebnisse zeigen, dass es sehr große Unterschiede zwischen den Kindern hinsichtlich ihrer Bücherkenntnisse gibt.
Große Unterschiede
Kinder unterscheiden sich nicht nur darin, wie häufig und wie lange sie ein Buch in die Hand nehmen, sondern auch darin, wie schnell und flüssig sie darin lesen. Die Leseratte, die sich zum Beispiel durch Vorlesen oder Blickbewegungsdaten ermitteln lässt, entwickelt sich rapide in der Grundschulzeit. Lesen Kinder in der zweiten Klasse, brauchen sie für siebzig Wörter (das heißt fünf bis sechs durchschnittlich lange Sätze) ungefähr eine Minute. Ein Erwachsener braucht für die gleiche Menge an Text nur ungefähr ein Viertel dieser Zeit.
Auf die Dauer summieren sich solche Unterschiede zu erheblichen Differenzen: Ein Kind, das durchschnittlich lange und gut liest, wird am Ende der sechsten Klasse ungefähr zwei Millionen Wörter gelesen haben – das entspricht ungefähr zweimal dem Umfang aller Harry-Potter-Bände. Ein Kind, das hingegen das Lesen fast vollständig vermeidet und eher zähflüssig liest, kommt nur auf etwa zehn Prozent davon.
Gleichzeitig kann ein Kind, das doppelt so viel liest, leicht vier bis sechs Millionen Wörter in der Grundschule lesen. Wie bei allen exponentiell verlaufenden Wachstumsprozessen machen sich selbst kleine Unterschiede in den Anfangszuständen schnell bemerkbar.
Dr. Sascha Schroeder / Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Stand: 06.03.2015