Nachdem Kolumbus sich wagemutig auf den Weg über den Atlantik gemacht hatte, folgte das goldene Zeitalter der Entdecker. Fernando Magellan und James Cook gehören zu den bekanntesten, waren aber bei weitem nicht die einzigen. Diese Seeleute dehnten den Einfluss ihrer Herrschaften über den ganzen Erdball aus. Vor allem aber erforschten sie Küstenlinien, entdeckten neue Inseln und verfeinerten Handelsrouten.
Doch einen riesigen Bereich der Ozeane ließen die Seefahrer und Forscher bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts praktisch unbeachtet: Sie schauten auf Küsten, Inseln und neue Länder, aber kaum tief unter die Wasseroberfläche. Die Tiefsee galt als lebensfeindlich – nichts, so die generelle Annahme, konnte in der absoluten Dunkelheit und dem großen Druck leben. Doch diese Ansicht sollte sich bald dramatisch wandeln.
Leben unter 300 Faden?
England in der viktorianischen Ära: Das britische Imperium ist auf der Höhe seiner Macht und hat die früheren Seefahrernationen Spanien, Portugal und die Niederlande verdrängt. Auch unter Wissenschaftlern herrscht Aufbruchsstimmung. Charles Darwins im Jahr 1859 veröffentlichtes Werk „Vom Ursprung der Arten“ sorgt für Diskussionsstoff und inspiriert viele weitere Forscher. Die Royal Society, die wahrscheinlich älteste Wissenschaftsgesellschaft der Welt, hat enormen Einfluss, auch auf die Politik.
In dieser Zeit vertritt der schottische Naturkundler Charles Wyville Thomson die Ansicht, auch größere Tiefen könnten durchaus von Lebewesen besiedelt sein. Thomson hatte 1868 und 1869 mit den Schiffen „Lightning“ und „Porcupine“ den Meeresboden um die britischen Inseln vermessen. Dabei war er auch auf Leben in größeren Tiefen als rund 300 Faden gestoßen. Ein Faden, englisch „fathom“, entspricht 1,83 heutigen Metern. Die Tiefe von 300 Faden, etwa 550 heutige Meter, galt als Grenze, darunter sollte die tote Tiefsee beginnen.
1870 hatte Thomson die Position als Professor für Naturgeschichte an der Universität von Edinburgh angenommen. Sein direkter Vorgänger in dieser Position war der angesehene Meeresforscher Edward Forbes, einer der wichtigsten Vertreter der Theorie von der „azoischen“, also unbelebten Tiefsee. Dessen Ansicht forderte Thomson nun heraus: Er überzeugte die Royal Society davon, eine noch nie dagewesene Forschungsfahrt zur Erforschung der Tiefsee zu organisieren.
Wirtschaftliche Gründe für wissenschaftliche Arbeit
Ein wirtschaftlicher Faktor kam Thomson dabei zu Hilfe, denn das Interesse an den Eigenschaften der Tiefsee war nicht nur wissenschaftlich. Die Telegrafie war mittlerweile die Kommunikationsmethode der Wahl über lange Strecken. Doch dazu mussten Kabel verlegt werden – auch durchs Meer. Das erste Kabel über den Atlantik war bereits 1858 einsatzbereit, aber nach nur drei Wochen fiel es bereits aus. Mehr Informationen über den Meeresgrund, am besten sogar dessen Kartierung, sollten das Verlegen solcher Kabel einfacher und zuverlässiger machen.
Thomson erhielt daher auch Rückendeckung von wirtschaftlicher und politischer Seite. Das lässt sich auch an der Summe erkennen, mit der die königliche Schatzkammer die Forschungsmission schließlich unterstützte: 200.000 britische Pfund flossen von dort. Das entspricht nach heutigem Kurs mehr als zehn Millionen Pfund oder fast fünfzehn Millionen Euro. Kein anderes Unternehmen der Royal Society hatte bis dahin auch nur annähernd so viel Geld erhalten.
Mindestens so wichtig wie das Geld war jedoch auch das Herzstück der Mission: Die Royal Navy stellte ein Schiff zur Verfügung, dessen Name bald legendär werden sollte – die HMS Challenger. Die neuen Erkenntnisse, die die Besatzung der Challenger auf ihrer folgenden Reise sammelten, übertrafen sämtliche Erwartungen. Die Forschungsmission war wegweisend für die noch junge Wissenschaft der Ozeanographie.
Ansgar Kretschmer
Stand: 24.07.2015