Rund 45 Kilometer nordöstlich von Mexico City liegt eine der berühmtesten und gleichzeitig rätselhaftesten Stätten des präkolumbischen Mittelamerika: Teotihuacan. Auf einem riesigen Gebiet finden sich hier Ruinen und andere Überreste einer Metropole mit Tempeln, Palästen und unzähligen weitläufigen Wohnhäusern.
Aus den heute noch stehenden Bauten und zahlreichen nur mittels Laserscanning erkennbaren Gebäuderesten geht hervor, dass sich allein das Stadtzentrum von Teotihuacan über eine Fläche von mindestens 20 Quadratkilometern erstreckte. Wahrscheinlich lebten und arbeiteten in dieser Großstadt einst mehr als 125.000 Menschen. Teotihuacan war damit zu ihrer Blütezeit die größte Metropole der Neuen Welt und eine der größten weltweit.
Umgestaltung der gesamten Landschaft
Doch das erstaunliche Ausmaß dieser Metropole geht noch weit darüber hinaus. Wie LIDAR-Kartierungen und Ausgrabungen im Herbst 2021 enthüllten, gestalteten die Erbauer von Teotihuacan das gesamte Tal tiefgreifend um: Schon ab dem Jahr 100 ebneten sie das Gelände ein und trugen den Boden an vielen Stellen bis auf den Felsuntergrund ab. An anderen Stellen gewannen sie Grundgestein, um mit diesem Geröll Senken im Stadtgebiet aufzufüllen. Zwei Flüsse, Rio San Juan und Rio San Lorenzo, wurden so kanalisiert und umgeleitet, dass sie der Ausrichtung der Bauwerke folgten.
Allein für die drei großen Pyramiden von Teotihuacan – die Mondpyramide, den Tempel des Quetzalcoatl und die Sonnenpyramide – wurden enorme Mengen an Material herangeschafft: „2,4 Millionen Kubikmeter Felsgestein, Geröll, Lehmziegel und Erde wurden für die Anlagen verbaut“, berichtet Nawa Sugiyama von der University of California in Riverside. Die Sonnenpyramide ist mit einer Höhe von 65 Metern und einem Volumen von rund einer Million Kubikmetern bis heute der drittgrößte Pyramidenbau der Welt.
Kein Wunder, dass selbst die Azteken von diesen Monumentalbauten beeindruckt waren: Als sie fast 500 Jahre nach dem Niedergang von Teotihuacan in diese Gegend kamen, gaben sie der Ruinenstadt ihren heutigen Namen. Er bedeutet auf Nahuatl in etwa „Wo die Götter wohnen“. Einige Merkmale dieser „Götterstadt“ nahmen die Azteken später als Vorbild für ihre eigene Hauptstadt Tenochtitlan. Auch einige ihrer Götterfiguren, darunter die Federschlange Quetzalcoatl, übernahmen sie wahrscheinlich von Teotihuacan.
Einzigartige Stadtstruktur
Mit ihren Tempelpyramiden, Palästen und formellen Plazas ähnelt Teotihuacan auf den ersten Blick den Städten der Maya, Tolteken und anderer früher Kulturen Mittelamerikas. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Anders als andere Städte ihrer Zeit war Teotihuacan bis in die Wohnviertel hinein strikt rechtwinklig und standardisiert aufgebaut – sie ähnelte damit bereits modernen Großstädten.
Neuartig war auch das Design der Wohnhäuser: Es handelte um Mehrfamilienhäuser mit jeweils mehreren Wohnungen, die von einer gemeinsamen Mauer umgeben waren und nur durch eine Haustür betreten wurden. „Diese Apartmentkomplexe waren eine für damalige Zeiten einzigartige Form urbanen Wohnens, nicht nur in Mittelamerika, sondern weltweit“, sagt Michael Smith von der Arizona State University.
Wohlhabend und multiethnisch
Zum Aufstieg von Teotihuacan trug vermutlich ein Ausbruch des Vulkans Popocatepetl im ersten Jahrhundert bei – konkurrierende Orte wurden zerstört und der Zustrom vieler Vulkanflüchtlinge ließ die Bevölkerung die Stadt wachsen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht von 200 bis etwa 650 nach Christus war Teotihuacan die dominierende Macht in Mittelamerika und dessen wirtschaftliches Zentrum. Von weither kamen damals Handwerker, Händler und Gesandte, um an diesem Wohlstand und Einfluss teilzuhaben.
Dies spiegelte sich auch im Stadtbild wider: Neben dem Stadtzentrum mit seinen Prachtbauten und großen Wohnblöcken gab es mehrere Viertel, die offensichtlich durch Einwanderer aus anderen Kulturen geprägt waren. Die Zuwanderer stellten unter anderem begehrte Luxusgüter für die Elite der Stadt her, darunter Kleidung und Edelstein-Schmuck, sie wurden aber auch als Hausbauer, Musiker und Krieger geschätzt. „Diese Gesellschaft profitierte von dem Wissen, dem technischen Können und der Erfahrung, die die Einwanderer in die Stadt brachten“, erklärt Linda Manzanilla von der Autonomen Nationaluniversität Mexiko.
Im Westen der multiethnischen Metropole zeugen Keramiken, Graburnen und eine Stele davon, dass dort vornehmlich Angehörige der Oaxaca und Zapotec lebten. In einem direkt anschließenden Viertel hatten sich offenbar Menschen aus Kulturen des westlichen Mexiko angesiedelt und östlich des Stadtzentrums lag eine Maya-Enklave. Die archäologischen Funde legen nahe, dass diese Angehörigen anderer Kulturen an ihren Sitten und Traditionen festhielten, wahrscheinlich auch an ihrer Sprache.
Doch welche Sprache die offizielle Verkehrssprache in Teotihuacan war, in welchem Zungenschlag die Einwohner handelten, administrative Dinge regelten oder ihre Rituale abhielten, ist ungeklärt. Auch woher die Gründer von Teotihuacan einst kamen und warum ihre Kultur sich auf so einzigartige Weise entwickelte, bleibt offen.