Eine Schädeldecke, verschiedene Arm- und Beinknochen, ein Hüftbecken und Bruchstücke von Schulterblatt und Rippen – mit diesen Knochenstücken, die Bergarbeiter in der Kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal bei Düsseldorf im Jahr 1856 fanden, begann unser heutiges Wissen über die Neandertaler. Dem deutschen Naturforscher Johann Carl Fuhlrott kamen diese Knochen nämlich merkwürdig vor: Der Schädel war zu wulstig, die Knochen schienen zu stämmig.
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Fuhlrott vermutete darum, dass die Fundstücke von einem urzeitlichen Menschen stammten. Darauf flammte unter den Gelehrten ein Streit auf: Handelte es sich um einen bislang unbekannten Vorfahren des heutigen Menschen, oder stammte die ungewöhnliche Schädelform von einer krankhaften Fehlbildung?
Von Afrika…
Heute wissen wir: Es war weder das eine noch das andere. Stattdessen handelte es sich beim Neandertaler um eine eigene Art des Menschen. Diese Art erhielt schließlich den wissenschaftlichen Namen Homo neanderthalensis. Der entfernte Cousin des Homo sapiens, und damit unserer Art, lebte wahrscheinlich schon vor gut 300.000 Jahren in Europa und Westasien – die genaue Datierung ist strittig. Vor rund 35.000 Jahren aber verschwand der Neandertaler, er starb aus.
Die Neandertaler wanderten jedoch nicht nach Europa ein. Sie entwickelten sich stattdessen vermutlich vor Ort aus einer älteren Frühmenschenart, dem Homo heidelbergensis. Von seiner Präsenz in Europa zeugt ein 600.000 Jahre alter Unterkiefer, der in der Gemeinde Mauer bei Heidelberg gefunden wurde. Unser direkter Vorfahre, der Homo sapiens, entwickelte sich dagegen in Afrika und machte sich erst vor weniger als 100.000 Jahren auf den Weg nach Europa und Asien.
Als die ersten Neandertaler sich auf dem europäischen Kontinent ausbreiteten, folgten sie offenbar einigen natürlichen Wanderrouten. Diese Routen lassen sich heute durch gefundene Knochen und Steinwerkzeuge nachvollziehen. Besonders die Flusstäler waren beliebt: Als eine der Hauptrouten der frühen Menschen nach Mitteleuropa gilt heute die Donau. Mit dem Verlauf des Rheintals gelangten die Neandertaler wahrscheinlich zum berühmten Fundort im Neandertal.
…bis Brandenburg
Die während der Eiszeit stark vergletscherten Gebirge versuchten sie dagegen zu umgehen. Durch das Thüringer Becken gelangten Neandertaler aber sogar bis ins heutige Brandenburg. Die dort in der Lausitz entdeckten Neandertaler-Werkzeuge sind mit einem Alter von rund 130.000 Jahren gleichzeitig die ältesten in Deutschland gefundenen Steinwerkzeuge überhaupt. Sie stellen die frühesten Anzeichen von menschlicher Besiedelung in dieser Region dar.
Zur Zeit der stärksten Vergletscherung während der Eiszeit lag die Eisgrenze nur wenig weiter nördlich. Die Landschaft, in der Neandertaler lebten, ähnelte wahrscheinlich dem heutigen Norden Skandinaviens: eine Mischung aus lichtem Wald und Tundra, bewachsen mit Sanddorn, Weiden und Birken sowie diversen Kräutern, Gräsern und Moosen.
„Ein Einwandern des Neandertalers in das Gebiet der heutigen Niederlausitz war also zumindest während der Sommermonate möglich.“ erklärt die Paläontologin Annette Kossler von der FU Berlin. Im Winter machten Schnee und Eis die Gegend vermutlich eher lebensfeindlich, die Eiszeitmenschen zogen in dieser Zeit vermutlich weiter nach Süden.
Neandertalisierung vor über 400.000 Jahren
Den Prozess der „Neandertalisierung“, also wie die Neandertaler sich aus ihren Vorgängern entwickelten, konnten Anthropologen unter anderem anhand von Funden in der „Knochengrube“ Sima de los Huesos in Nordspanien nachvollziehen. Die dort entdeckten Knochen sind etwa 430.000 Jahre alt und ähneln bereits dem Neandertaler.
Spanien bietet heute die reichsten Fundstellen von ehemaligen Siedlungen der Neandertaler. Aber auch zahlreiche Fossilien vor allem aus Frankreich und Italien liefern uns Einblicke ihr Leben und Schaffen. Das Siedlungsgebiet der Neandertaler erstreckte sich jedoch noch viel weiter: Auch aus Vorderasien, dem Kaukasusgebiet und dem russischen Altai-Gebirge sind Neandertaler-Funde bekannt.
Ansgar Kretschmer
Stand: 13.03.2015