Im Alltag reicht es uns meist schon, wenn wir die Zeit auf die Minute, höchstens die Sekunde genau kennen. Im Leistungssport kann es manchmal aber auch um Hundertstelsekunden gehen. Aber wozu braucht man Atomuhren, die die Zeit bis auf die Billiardstel Sekunde oder sogar noch genauer messen können?
Ohne Atomuhren kein GPS
Ein wichtiges Einsatzgebiet von Atomuhren sind Satellitennavigationssysteme wie das GPS, das europäische Galileo-System, das russische GLONASS oder Chinas Beidou. Diese Systeme helfen nicht nur Autos, Schiffen oder Flugzeugen, ihre Route zu finden. GPS-Messdaten sind auch im Baubereich unverzichtbar, um beispielsweise beim Tunnelbau die richtigen Höhen und Maße einzuhalten. In der Wissenschaft dienen GPS-Sensoren unter anderem dazu, Vulkane und die Verschiebung des Untergrunds in Erdbebengebieten zu überwachen.
Bei all diesen Messungen spielen Atomuhren eine entscheidende Rolle – ohne sie würde die gesamte Satellitenortung nicht funktionieren. Denn die GPS-Empfänger auf der Erdoberfläche ermitteln die Position, indem sie die Signale von mehreren GPS-Satelliten auslesen und vergleichen. Jedes dieser Signale beinhaltet einen Zeitstempel, der die Absendezeit vom Satelliten bis auf wenige Nanosekunden genau angibt. Die aktuelle Position errechnet der GPS-Empfänger dann, indem er die Laufzeit der mit Lichtgeschwindigkeit zur Erde gefunkten Signale ermittelt. Weil die Positionen der Satelliten bekannt sind, verrät dies den Standort auf der Erde.
Wie genau die Satellitenortung ausfällt, hängt demnach davon ab, wie präzise die Laufzeit der GPS-Signale gemessen werden kann. Deswegen haben alle Satelliten des Navigationssystems eine eigene kleine Atomuhr an Bord – in der Regel sind dies Cäsium- oder Rubidium-Uhren. Weil Flughöhe und Flugtempo der Satelliten ihren Gang beeinflussen, werden sie regelmäßig von Bodenstationen aus mit einer Referenz-GPS-Atomzeit kalibriert. Dies sorgt dafür, dass alle GPS-Satelliten im Gleichtakt „ticken“.
Warum Rechenzentren die Atomzeit brauchen
Doch auch für unsere digitalen Technologen ist die Atomzeit unverzichtbar. Die Spanne der von ihr abhängigen Anwendungen reicht von Transaktionen im globalen Finanzsystem über Internetserver bis zu den Datenzentren der großen Streamingdienste. „Allein im Jahr 2021 wurden jeden Tag geschätzt 2,5 Exabytes an Daten erzeugt. Große Datenbanken im Exabytemaßstab führen dabei mehr als 100.000 Transaktionen pro Sekunde durch“, erklärt David Chandler von GPS World.
Nur wenn diese Transaktionen alle in der korrekten zeitlichen Abfolge ablaufen, funktionieren die digitalen Systeme – egal ob es um Updateschritte, Geldtransfers oder das Streamen eines Films geht. Und an diesem Punkt kommen erneut die Atomuhren ins Spiel. Über spezielle Internetsignale und über die Satellitensysteme erhält jedes Rechenzentrum und jeder Server regelmäßig Zeitsignale, durch die die Computeruhren bis auf Sekundenbruchteile genau synchronisiert werden können. „Diese Methode liefert die bis auf fünf Nanosekunden genau und ermöglicht so 100 Millionen zeitgetaktete Transkationen pro Sekunde“, erklärt Chandler.
Einsteins Zeitdehnung auf der Spur
Doch für einige Anwendungen in der Physik reicht selbst diese zeitliche Auflösung nicht aus – beispielsweise, wenn es darum geht, die von Einsteins Relativitätstheorie postulierte Zeitdehnung zu überprüfen. Nach dieser vergeht die für eine Uhr oder Person langsamer, wenn sie einer Beschleunigung oder der Gravitation ausgesetzt ist. Umgekehrt ticken Uhren in einem Flugzeug oder auf einem Berggipfel ein wenig schneller als eine im Tal stehende Uhr.
Dass die Einsteinsche Zeitdehnung existiert, haben Wissenschaftler schon in den 1970er Jahren durch Messungen in Flugzeugen und auf Satelliten nachgewiesen. Diese Messungen waren jedoch nicht genau genug, um Abweichungen vom physikalischen Standardmodell völlig auszuschließen. Erst mithilfe von optischen Atomuhren sind Physiker diesem Ziel nähergekommen.
2018 gelang es Wissenschaftlern der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) erstmals, die gravitationsbedingte Zeitdifferenz zwischen einem Berggipfel und dem Tal mit einer mobilen optischen Strontium-Atomuhr zu messen. Dafür transportierten die die Atomuhr auf einem speziell isolierten Anhänger in einen französischen Alpentunnel und verglichen die Messwerte mit denen einer zweiten optischen Atomuhr im rund tausend Meter tiefer liegenden Turin. Tatsächlich zeigte sich die von Einstein vorhergesagte Verschiebung der Messfrequenz.
Zeitdilatation im Millimeter-Maßstab
Im Jahr 2022 gelang Tobias Bothwell vom US National Institute of Standards and Technology (NIST) und seinem Team ein weiterer Durchbruch: Sie haben erstmals die Zeitdehnung innerhalb einer Atomuhr und mit nur einem Millimeter Höhendifferenz gemessen. „Wir haben zum ersten Mal den von der Schwerkraft verursachten Frequenzgradient innerhalb einer Atomprobe beobachtet und die Gravitations-Rotverschiebung bis in den Submillimeterbereich hinein aufgelöst“, berichten die Forscher.
Möglich wurde dies durch eine optische Gitteratomuhr, in der rund 100.00 ultrakalte Strontiumatome durch ein Lasergitter zu einer Säule mit einzelnen „Scheibchen“ geformt wurden. Zusätzlich waren die Atome jeder Schicht untereinander quantenphysikalisch verschränkt. Die einzelnen Atomscheibchen wurden dann mit dem Messlaser zum Zustandswechsel gebracht. Und tatsächlich: Weil unteren Atome stärker der Erdschwerkraft ausgesetzt waren, verschob sich die für ihre Anregung nötige Laserfrequenz um 0,1 Trillionstel in den langwelligeren roten Bereich des Spektrums. Dies entspricht den Vorhersagen der Relativitätstheorie mit einer Messunsicherheit von nur 7,6 Trilliardsteln.
Allerdings ist selbst dies noch nicht genau genug, um noch grundlegender physikalische Phänomene zu erforschen: „Wenn wir beispielsweise die Gravitations-Rotverschiebung nur um das Zehnfache genauer messen könnten als in unserem Experiment, könnten wir sehen, wie die atomaren Materiewellen auf die Raumzeit-Krümmung reagieren“, erklärt Bothwells Jun Ye. Aber wie lässt sich eine weitere Steigerung der Zeitmessung erreichen?