Das Einhorn, ursprünglich ein Fabelwesen, das aus dem mittleren Orient sowie aus China stammt, galt und gilt als Symbol höchster Reinheit. Wurde das Pferd bereits im Altertum wegen seiner Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer hoch angesehen, wird das Einhorn durch sein wunderwirkendes Horn zum Symbol des Schöpfers selbst und zum verständlichen Symbol der himmlischen Energie.
Nahezu unverändert haben christliche Mythologie und mittelalterliche Forschung die Gestalt dieses Fabelwesens übernommen. In einem mittelalterlichen Bestiarium, das auf dem griechischen "Physiologus" aus dem zweiten Jahrhundert beruht, beschäftigt man sich mit der Frage, wie man ein Einhorn fängt. Bekannterweise wird hierzu eine Jungfrau benötigt, bei der das unbezähmbare Tier seine Wildheit ablegt, zahm und friedfertig seinen Kopf in ihren Schoß legt und sie in das Schloss des Königs begleitet. Große Bedeutung wird auch der Wunderwirkung des Horns zugesprochen. In den See, in den die das Böse verkörpernde Schlange ihr Gift spritzt und so eine Lebensgrundlage aller Tiere zerstört, taucht das Einhorn sein Horn ein. Das vergiftete Wasser ist sofort gereinigt. Das Fabeltier und die Geschichte, die sich um das Einhorn rankt, wird zum christlichen Sinnbild. Christus, Inbegriff der Erlösung und der göttlichen Macht, wird Mensch und Erlöser der Menschheit über die Jungfrau Maria.
Warum glaubte man im Mittelalter dennoch an die Existenz des Einhorns? Odell Sheperd gibt 1930 eine einleuchtende Erklärung: "Niemand im mittelalterlichen Europa sah jemals einen Löwen oder Elefanten oder Panther, doch die Tiere wurden fraglos akzeptiert, und zwar aufgrund von Beweisen, die keinesfalls besser oder schlechter waren als die, die für die Existenz des Einhorns sprachen."
Wissenschaft, Wirtschaft und Mythos waren im Mittelalter noch recht eng miteinander verknüpft. Beinahe zwangsläufig wurde dann auch dem pulverisierten Horn des Einhorns eine beträchtliche Wirkung als Gegengift zugesprochen. Nicht nur Alchimisten, sondern auch Könige und Fürsten vertrauten der Wunderkraft des Horns, um sich vor den mehr oder weniger gängigen Giftmorden ihrer Zeit zu schützen. Der deutsche Reisende und Rechtsgelehrte Paul Hentzner behauptete, 1598 unter den Kronjuwelen Königin Elisabeths I. von England eines gesehen zu haben, das achteinhalb Spannen lang war und auf 100.000 Pfund Sterling geschätzt wurde. So war der Verkauf des Horns eines lebenden Tieres, das als Einhorn gehandelt wurde, auch ein mehr als gutes Geschäft – das Horn des Narwals.
Stand: 15.09.2006