Geschickter Banker, erfahrener Seemann, erfolgreicher Entdecker und Namenspatron für die Amerikas: Amerigo Vespuccis „Image“ ist ebenso tadellos wie seine Leistungen – sollte man zumindest meinen. Doch längst sind Forscher und Biografen in der überlieferten Geschichte des Florentiners auf eine ganze Menge Widersprüche, Rätsel, Legenden und Mythen gestoßen.
Zweifel über Zweifel
So herrscht unter ihnen beispielsweise keine Einigkeit darüber, an wie vielen Reisen in die „Neue Welt“ Vespucci tatsächlich selber teilgenommen hat. In einem Brief an den befreundeten florentinischen Staatsmann Piero Soderini – gedruckt in lateinischer Übersetzung als „Quatuor Americi Vesputii Navigationes“ (Vier Seefahrten des Amerigo Vespucci) – berichtet Vespucci selbst von vier Entdeckertouren.
Von diesen sind aber nur die beiden zuvor näher beschriebenen auch durch andere Quellen bestätigt und belegt. Viele moderne Historiker, die sich näher mit Vespucci beschäftigt haben, gehen deshalb davon aus, dass die angeblich erste (10. Mai 1497 bis 15. Oktober 1497) und die vierte Expedition (10. Mai 1503 bis Mitte 1504) eher auf „Seemannsgarn“ beruhen. Stimmt dies, wäre zumindest die Legende vom Tisch, dass Vespucci noch vor Giovanni Caboto (24. Juni 1497) und Christoph Kolumbus (1498) amerikanisches Festland betreten hat.
Geschmückt mit fremden Federn?
Ebenfalls nicht endgültig geklärt ist bis heute, was für eine Rolle Vespucci bei den gesicherten Fahrten an Bord spielte – und welche der vielen angeblichen Funde ihm dabei tatsächlich gelungen sind. So gilt Vespucci zwar beispielsweise als derjenige, der als Erster die Mündung des Amazonas gesehen hat. Doch dieser Titel könnte auch dem Spanier Vicente Yáñez Pinzón gebühren, der nahezu zeitgleich dort mit seinem Schiff unterwegs war.
Weitgehend erwiesen ist zudem, dass es nicht Vespucci war, der die „Allerheiligenbucht“ (Bahia de Todos os Santos) am 1. November 1501 entdeckte. Denn historischen Dokumenten zufolge wurde diese schon zuvor von dem portugiesischen Seefahrer Gaspar de Lemos besucht – und dies rund eineinhalb Jahre vor Vespucci.
Heldentaten im Zwielicht
Diese und andere, ähnliche Beispiele haben dafür gesorgt, dass Vespuccis Ruf als Entdecker in den letzten Jahrzehnten ziemlich gelitten hat. Wahrheit und Fiktion sind in seinem Leben zum Teil kaum noch zu unterscheiden. Dies liegt auch daran, dass viele von Vespuccis angeblichen „Heldentaten“ in Südamerika nur durch seine eigenen Reiseberichte bekannt sind. Weitere, objektive Aufzeichnungen darüber gibt es in der Regel nicht. Einige von Vespuccis Kritiker halten ihn deshalb für einen Blender und Fälscher, dem es nur um das eigene Ansehen ging.
Noch komplizierter wird das Ganze durch einen anderen Aspekt: Niemand kann heute mehr sicher sagen, ob Vespuccis wichtigste Reiseberichte „Mundus Novus“ und „Quatuor Americi Vesputii Navigationes“ tatsächlich aus eigener Feder stammen. So existiert beispielsweise vom „Mundus Novus“ das in italienischer Sprache geschriebene Original längst nicht mehr. Stattdessen muss man heute auf alte lateinische Kopien zurückgreifen.
Rätselraten ohne Ende
Und was den Soderini-Brief Vespuccis angeht kommt der Biograf Frederick J. Pohl in seinem Buch „Amerigo Vespucci: pilot major“ aufgrund von eigenen Recherchen zu dem Schluss, dass dieser schlicht und einfach gefälscht ist.
Der kolumbianische Schriftsteller und Journalist Germán Arciniegas dagegen hält diesen Brief in seinem Buch „Amerigo and the New World: The Life and Times of Amerigo Vespucci“ für echt…
Dieter Lohmann
Stand: 09.06.2011