Am Ende der letzten Eiszeit kam es in Europa zu einem erstaunlichen „Verfolgungsrennen“ im Tierreich. Dies hat jetzt ein deutsch-finnisch-schwedisches Wissenschaftler-Team in der Fachzeitschrift „Global Change Biology“ enthüllt. Danach wanderten die vom Balkan stammende wärmeliebende Sumpfschildkröte und das Rentier aufgrund der steigenden Temperaturen immer weiter Richtung Norden aus.
Als die nur etwa zwanzig Zentimeter große Sumpfschildkröte schließlich vor 9.860 Jahren in Südschweden ankam, war das Rentier aus seinem ehemaligen Lebensraum bereits seit 450 Jahren verschwunden. Es hatte dort von 13.600 bis 10.300 Jahre vor heute gelebt und war mittlerweile in die arktischen Regionen geflohen.
„Die Europäische Sumpfschildkröte, eine Art, die warme Klimabedingungen benötigt, hat hier das Ren, ein typisches Eiszeittier, quasi ersetzt“, erklärt Professor Uwe Fritz, Leiter des Museums für Tierkunde an den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden. Die komplett gegensätzlich angepassten Arten gelten als bedeutende Anzeiger für eis- oder warmzeitliche Klimabedingungen.
Mit Chronisten der Eiszeit auf Spurensuche
„Vor allem im Hinblick auf das gegenwärtige Artensterben interessiert uns Naturwissenschaftler, wie sich das Ende der letzten Eiszeit auf die Zusammensetzung von Tiergemeinschaften, auf Aussterbedynamiken und auf die Gen-Pools von Arten ausgewirkt hat“, erklärt der Erstautor Robert Sommer vom Institut für Natur- und Ressourcenschutz an der Universität Kiel. Bisher hatten detaillierte und gut datierte Chroniken über den Verlauf regionaler Aussterbeereignisse und die Zuwanderung von Arten gefehlt.
Das Forscher-Team führte nun DNA-Analysen durch und untersuchte Geweihe sowie fossile Knochen aus der Region Skåne nach der Radiokarbonmethode. Anhand umfangreicher Datensätze wurde eine detaillierte Chronologie der klimagesteuerten Prozesse für den Zeitraum zwischen 14.700 und 9.100 Jahren vor heute erstellt. Mit den für Rentier und Sumpfschildkröte ermittelten Datenreihen lässt sich jetzt erstmals eine Areal- und Faunenverschiebung mit einem Temperatur-/Zeitverlauf korrelieren und für ein geografisch zusammenhängendes Gebiet darstellen. „Der radikale Umschwung hat Landschaft und Tierwelt in einer vergleichsweise kurzen Zeit gravierend verändert“, fasst Fritz die Ereignisse zusammen.
Ein globaler Temperaturanstieg und seine Folgen
Untersuchungen von Eisbohrkernen und andere Klimanachweise aus Nordeuropa zeigen markante Veränderungen um 11.700 Jahre vor heute. Am Ende des so genannten Grönland-Stadials-1 sind die Temperaturen innerhalb von nur einem bis drei Jahren explodiert. Bevor sich das Tempo dieser extrem schnellen Erwärmung im frühen Holozän wieder verlangsamte, hatte bereits ein dramatischer Veränderungsprozess eingesetzt.
Pollenanalysen belegen, dass die bis dahin in der Region vorherrschende tundraartige Landschaft parallel zu dem Temperatursprung verschwand. Die für den eiszeitlichen Landschaftstyp charakteristischen Flechten, Kräuter, Gräser und Büsche, die dem Ren als Nahrung dienten, wurden durch einen Birkenwald verdrängt. Der Fossilbericht zeigt nach Angaben der Forscher, dass die Rentierpopulation schrumpfte. Der letzte Fund datiert 10.300 Jahre vor heute.
Beim Eintreffen der Sumpfschildkröte, gerade einmal 450 Jahre später, hatte der Wald sich erneut gewandelt. Zwischen laubtragenden Bäumen hatten sich Kiefern angesiedelt. Auch für die Tierwelt blieb die Erwärmung nicht ohne Folgen: Charakteristische Pleistozän-Arten wie der Berglemming, Pfeifhasen und die Schneemaus verschwanden. Funde aus Holozän-Ablagerungen zeigen den Wissenschaftlern zufolge, dass Hasel- und Rötelmaus, Siebenschläfer, Wildkatze und andere Wirbeltierarten sich zu der Zeit in den südschwedischen Wäldern eingenischt hatten.
Der lange Weg der Protagonisten
Obwohl sich Sumpfschildkröte und Ren nie begegneten, hatte ihre zeitversetzte Parallel-Wanderung in Richtung Norden schon in Mitteleuropa begonnen. Mit dem Lebensraum des Rens, das vor 13.600 Jahre den zurückweichenden Eisschilden bis nach Südschweden gefolgt war, hat sich jeweils auch die nördliche Verbreitungsgrenze der Schildkröte verschoben. Während die steigenden Temperaturen Emys orbicularis ein Maximum an Verbreitung ermöglichten, wurde der Lebensraum des Rens nach Angaben der Forscher durch die Erwärmung kontinuierlich reduziert.
Doch noch einmal konnte es nach Norden ausweichen. Im Gegensatz zu etlichen, längst ausgestorbenen Eiszeitriesen hat das Ren in arktischen Regionen bis heute überlebt. Mit seiner perfekt an ein extrem kaltes Klima angepassten Physiologie und einem Grundumsatz, der sich bei Temperaturen von 0 bis –45° Celsius nicht verändert, ist das Tier bestens für diesen Lebensraum ausgestattet.
Auch die Sumpfschildkröte ist noch einmal ein kleines Stück nach Norden gewandert und dem imposanten Geweihträger ein letztes Mal bis nach Östergötland gefolgt. In Schweden verlieren sich die Spuren des Reptils allerdings rund 5.500 Jahre vor heute, so die Wissenschaftler. Dass die im Winter durchaus kältetolerante Schildkröte schon deutlich vor dem Ende des Holozän-Wärmemaximums in Schweden verschwand, hängt ihnen zufolge wahrscheinlich mit den Sommertemperaturen zusammen. Diese waren vorübergehend gesunken, so dass die Bodenwärme nicht mehr zum Ausbrüten der Schildkröteneier reichte und schließlich der Nachwuchs fehlte.
Meeresspiegelanstieg verhinderte Wiederbesiedlung
Obwohl das Klima sich später wieder erwärmte, verhinderte der zwischenzeitlich gestiegene Meeresspiegel eine Wiederbesiedlung der Region, so die Wissenschaftler weiter. Die nördlichsten Schildkröten-Populationen leben heute im Nordosten Deutschlands, in Polen, Litauen und Lettland.
„Unsere Beobachtungen zeigen, wie sensibel und vergleichsweise rasch die Verbreitungsgebiete von Tierarten auf Klimaveränderungen reagieren. In der heute vom Menschen ungleich stärker beeinflussten Umwelt sind Verschiebungen der Verbreitungsgebiete viel schwieriger, so dass der Klimawandel das Aussterben zahlreicher Arten verursachen kann“, erklärt Fritz die Bedeutung der Forschungsergebnisse für die Gegenwart. (doi:10.1111/j.1365-2486.2010.02388.x)
(Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen, 29.03.2011 – DLO)