Umstrittene Entdeckung: 250.000 Jahre alte Funde in Südafrika haben eine Diskussion darüber entfacht, ob schon der rätselhafte Frühmensch Homo naledi seine Toten absichtsvoll bestattete und vielleicht sogar Höhlenkunst hinterließ – mehr als 100.000 Jahre vor ähnlichen Funden des Homo sapiens und trotz seines sehr kleinen Gehirns. Mögliche Belege dafür sind zwei grabähnliche Senken mit Skelettteilen sowie Ritzspuren in der südafrikanischen Rising-Star-Höhle. Doch ob es sich bei diesen Funden tatsächlich um Gräber handelt, ist stark umstritten.
2013 entdeckten Paläoanthropologen um Lee Berger von der Universität Witwatersrand in den Tiefen der südafrikanischen Rising-Star-Höhle die ersten Fossilien des rätselhaften Homo naledi. Dieser vor 241.000 bis 335.000 Jahren lebende Frühmensch zeigte ein ungewöhnliches Mosaik archaischer und fortgeschrittener Merkmale und besaß ein auffallend kleines Gehirn: Mit nur 460 bis 550 Milliliter Volumen entsprach es eher dem des Vormenschen Australopithecus als dem des zeitgleich lebenden Homo sapiens.
Zwei Senken mit Skelettresten
Schon bei der Entdeckung der Homo-naledi-Fossilien sorgte ihr Fundort für Spekulationen. Denn die Knochen lagen in einer fast unzugänglichen Kammer am Ende eines schmalen, fast senkrechten Schachts. Doch nichts deutete darauf hin, dass Tiere oder natürliche Prozesse, wie zum Beispiel fließendes Wasser, diese Fossilien in die Tiefe transportiert haben könnten. Berger und sein Team mutmaßten daher schon damals, dass die Homo naledi möglicherweise ihre Toten absichtlich in dieser Höhlenkammer bestattet hatten – Belege dafür fehlten jedoch.
Jetzt präsentieren Berger und seine Kollegen neue Funde, die ihre Theorie untermauern sollen. Es handelt sich dabei um zwei flache, mit Homo-naledi-Knochen gefüllte Senken in der Höhlenkammer, deren Form und Beschaffenheit auf einen menschengemachten, absichtlichen Ursprung hindeuten. „Diese Gruben wurde durch die existierende Schichtenfolge gegraben und sind klar von dem umgebenden, weitgehend knochenfreien Sediment abgegrenzt“, berichtet das Team.
Früheste Bestattungen der Menschheitsgeschichte?
In einer dieser Senken identifizierten die Forschenden 83 Knochenfragmente, die vorwiegend zu nur einer Person gehörten. „Die räumliche Anordnung der Skelettreste passt zur Bestattung eines Körpers, der mit Sediment bedeckt wurde und anschließend verweste und zerfiel“, erklären Berger und seine Kollegen. In der zweiten Senke fanden sich 90 Knochenfragmente und 51 Zähne, die von drei bis vier Individuen stammen könnten.
Eines der Homo-naledi-Individuen aus dieser Senke war ein älterer Jugendlicher, dessen Skelettreste ebenfalls noch in weitgehend natürlicher Anordnung lagen, wie die Paläoanthropologen berichten. Die Relikte der restlichen Toten waren dagegen verstreut und nur noch in Form weniger Zähne und Knochen erhalten. Nach Ansicht von Berger und seinem Team sprechen diese Funde dafür, dass es sich nicht um zufällig in die Höhlenkammer gespülte oder von Tieren hineingetragene Relikte handelt, sondern eher um absichtsvoll dort deponierte Tote.
„Damit handelt es sich um die bisher frühesten Bestattungen der Menschheitsgeschichte, sie sind mindestens 100.000 Jahre älter als die ältesten Belege für Begräbnisse des Homo sapiens“, konstatieren sie. Ihrer Meinung nach verfügte schon der Homo naledi über Fähigkeit zu einem solchen symbolischen Handeln – trotz seines kleinen Gehirns. Der Transport der Toten in die fast unzugängliche Kammer der Höhle erforderte zudem eine ausgeprägte soziale Kollaboration, Koordination und Planung.
Geometrische Ritzmuster trotz kleinem Hirn
Als weiteren Beleg für die erstaunlich fortgeschrittenen Fähigkeiten des Homo naledi sehen die Wissenschaftler geometrische Ritzmuster, die sie an einigen Wänden der Rising-Star-Höhle entdeckt haben. Die in den Kalkstein geritzten Linien bilden Kreuze, Dreiecke, Rechtecke und andere geometrische Formen und ähneln den Ritzmustern, die unter anderem aus einer von Neandertalern bewohnten Höhle in Gibraltar bekannt sind.
„Damit sind wir hier mit der bemerkenswerten Entdeckung von Hominiden konfrontiert, die nur ein Drittel des Hirnvolumens moderner Menschen hatten, aber dennoch schon ihre Toten begruben, Symbole nutzten und sinnstiftende Handlungen durchführten“, sagt Berger. Seiner Ansicht nach widerlegt dies die Annahme, dass nur Menschenarten mit großem Gehirn zu kognitiv komplexen kulturellen und symbolischen Handlungen fähig waren.
Fachkollegen zweifeln: „Belege reichen nicht aus“
Allerdings: Bergers Interpretation der neuen Funde ist stark umstritten. Denn andere Paläoanthropologen sehen keineswegs klare Belege für eine Bestattung. „Ich bin zwar mehr und mehr davon überzeugt, dass hier etwas Faszinierendes stattfand. Aber die Belege reichen nicht aus, um die Kriterien für ein absichtsvolles Begräbnis zu erfüllen“, kommentiert María Martinón-Torres vom spanischen Forschungszentrum für menschliche Evolution (CENIEH). Sie und ihr Team haben 2021 das bisher älteste Grab des Homo sapiens entdeckt – ein 78.000 Jahre altes Kindergrab in Kenia.
Einige Paläoanthropologen vermuten, dass die in der Höhlenkammer gefundenen Toten nicht bestattet, sondern in den Schacht geworfen wurden und dann dort verwesten. Andere halten es für wahrscheinlicher, dass die Knochen durch Wasser in die Kammer gespült wurden und sich dann dort in den Senken sammelten. Der Archäologe Curtis Marean von der Arizona State University weist zudem darauf hin, dass auch bei prähistorischen Bestattungen meist kulturelle Artefakte im Umfeld gefunden werden – beispielsweise Steinwerkzeuge, mit denen die Gräber gegraben wurden. In der Rising-Star-Höhle war dies nicht der Fall.
Funde bleiben strittig
Zweifel gibt es zudem an der Zuordnung der Felsritzungen zum Homo naledi. Zwar finden sich in der Rising-Star-Höhle bisher keine Spuren für die Präsenz anderer, späterer Menschenarten. Dennoch sei dies allein noch kein Beleg, dass die geometrischen Ritzungen vom Homo naledi stammen müssen – zumal die Ritzungen nicht datiert werden konnten, kommentiert der Archäologe Paul Pettitt von der Durham University gegenüber Science. Die Felskunst könnte daher lange nach der Ära des Homo naledi entstanden sein.
Ob die Entdeckungen in der Rising-Star-Höhle tatsächlich die ältesten Begräbnisse der Menschheitsgeschichte repräsentieren oder nicht, ist daher noch offen. Nach Ansicht von Berger und seinem Team waren ihre Funde und deren mögliche Bedeutung aber zu wichtig, um sie nicht zur Diskussion zu stellen und zu veröffentlichen. „Dies verdient eine globale Diskussion – darüber, wie wir damit umgehen und was wir als nächstes tun“, sagt Berger.
Er und sein Team haben deshalb ihre drei Fachartikel dazu als Preprints ins Netz gestellt. „Die Leser können dann selbst mitverfolgen, wie wir mit den Gutachtern und Editoren interagieren“, sagt Berger. (BioRxiv, doi: 10.1101/2023.06.01.543127; doi: 10.1101/2023.06.01.543133; doi: 10.1101/2023.06.01.543135)
Quelle: BioRxiv, Science Magazine, National Geographic