Nach 2.000 Jahren wieder lesbar: Mithilfe von lernfähigen Algorithmen haben zwei Studenten Buchstaben auf einer verkohlten Schriftrolle aus Herculaneum entziffert – der Stadt, die mit Pompeji unter Vulkanasche begraben wurde. Bisher war es so gut wie unmöglich, die bei der Eruption verschütteten Schriftrollen zu lesen ohne sie zu öffnen. Doch jetzt sind entscheidende Anfänge gelungen – dank künstlicher Intelligenz und entscheidenden Erkenntnissen dazu, wie sich antike Tinte im gerollten Papyrus sichtbar machen lässt. Beide Studenten – einer aus Berlin und einer aus den USA – haben dafür einen Preis erhalten.
Als der Vesuv im Jahr 79 ausbrach, begrub er die antiken Städte Pompeji und Herculaneum unter meterdicken Aschenschichten. In Herculaneum wurden damals neben Menschen und Gebäuden auch rund tausend Schriftrollen verschüttet und teilweise verkohlt, die sich in der Bibliothek einer Privatvilla befanden. Einige dieser Papyrus-Rollen konnten seither entziffert werden. Der größte Teil ist jedoch für das Entrollen zu fragil. Archäologen nutzen daher spezielle Röntgentechniken, um ihr Inneres zerstörungsfrei sichtbar zu machen. Auch biblische Schriftrollen wurden so von einem Team um Brent Seales von der University of Kentucky schon lesbar gemacht.
Das Problem jedoch: Die auf den antiken Papyri von Herculaneum verwendete Tinte ist rußbasiert und hebt sich daher in gängigen Röntgenmethoden kaum vom Untergrund ab. Seales und sein Team haben daher daran gearbeitet, ihre Scan-Methoden zu verfeinern und dabei auch neuronale Netzwerke zu Hilfe genommen. Doch was auf diesen Schriftrollen stand, blieb unlesbar – die Tinte war nicht mehr zu erkennen.
Die Vesuvius Challenge: Wer entziffert die Rollen?
Im März 2023 wurde daraufhin die Vesuvius Challenge lanciert – ein offener Wettbewerb um die Entzifferung von zwei ungeöffneten, aber bereits gescannten Schriftrollen aus Herculaneum. Im ersten Schritt machte sich ein Team daran, mithilfe der von Seales und seinen Kollegen entwickelten Werkzeuge, die gescannten Abschnitte der Papyri zu kartieren. „Bis Juli hatten wir so hunderte Quadratzentimeter Papyrus in Segmente aufgeteilt und virtuell entrollt“, berichten die Initiatoren der Challenge. Im August entdeckte ein US-Forscher ein spezielles Bruchmuster in der Textur der Papyrusoberfläche, das Relikte der antiken Tinte darstellen könnte.
An diesem Punkt kommen die beiden Preisträger ins Spiel. Luke Farritor, Student an der University of Nebraska in Lincoln, hatte über einen Podcast von der Vesuvius Challenge erfahren und verfolgte auf Discord auch die Diskussion über die Bruchmuster. Während er einen Sommerworkshop bei SpaceX in Texas absolvierte, nutzte er die freien Abende und Nächte daraufhin, um einen lernfähigen Algorithmus auf die Identifizierung dieser „Crackle“-Muster zu trainieren.
Farritor und das erste Wort
Schließlich gelang der Durchbruch: Farritor entdeckte mithilfe seines KI-Modells mehrere Dutzend Linien und Buchstaben, die ein griechisches Wort zu ergeben schienen. Der Student reichte sein Ergebnis bei der Challenge ein, woraufhin Papyrologen die Aufnahmen und Entzifferung prüften. Dies bestätigte: Farritor hatte ein griechisches Wort auf der Schriftrolle aus Herculaneum entziffert: ΠΟΡΦΥΡΑϹ – Porphyras. Dieses griechische Wort steht für Purpur.
„Damit ist Luke die erste Person seit 2.000 Jahren, die ein Wort auf dieser ungeöffneten Schriftrolle entziffert hat“, heißt es in einem Statement der Vesuvius Challenge. „Dafür bekommt er den mit 40.000 US-Dollar dotierten First Letters Preis, für das mindestens zehn Buchstaben auf einer Fläche von vier Quadratzentimetern zu entziffern waren.“
Ein Berliner Student holt den zweiten Preis
Kurze Zeit später hat auch ein zweiter Teilnehmer, der Biorobotik-Student Youssef Nader von der Technischen Universität Berlin, ebenfalls dieses Wort entziffert. Er nutzte dafür ein anderes lernfähiges Modell, das er für diesen Zweck anpasste und das nicht nach den „Crackle“-Mustern, sondern nach anderen Anomalien suchte. Das Ergebnis war eine Aufnahme, die das griechische Wort und sein Umfeld noch klarer zeigte als bei Farritor. Nader hat dafür den mit 10.000 US-Dollar dotierten zweiten Preis erhalten.
Noch viel wichtiger jedoch: Die von den beiden Preisträgern entwickelten Methoden tragen nun dazu bei, die antiken Schriftrollen nun Stück für Stück lesbar zu machen. Nach Angaben des Vesuvius Challenge sind inzwischen bereits viereinhalb Spalten Text sichtbar gemacht. „Viele weitere Buchstaben sind erkennbar, wenn auch noch nicht alle lesbar“, berichten die Initiatoren. „Unser papyrologisches Team arbeitet mit Hochdruck daran, die Wörter zu entziffern.“
Wem es gelingt, mindestens vier Spalten Text aus den beiden Schriftrollen von Herculaneum zu entziffern, der gewinnt den Hauptpreis des Wettbewerbs von 700.000 US-Dollar. Noch kann jeder und jede mitmachen, wie die Veranstalter betonen.
Quelle: Vesuvius Challenge, University of Nebraska-Lincoln